Thomas Hoffmann

Blaues Feuer


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zornesrotem Gesicht grollte Hans Lederer: „Komm vor die Tür, Norbert!“

      Die Mutter weinte schluchzend. Leika versuchte, Norbert etwas zuzuflüstern, aber er hörte nicht hin. Sein Herz hämmerte. Ohne auf Norbert zu warten, stapfte der Vater zur Tür.

       Ich bring ihn um! Oder er mich, ist mir egal. Ich mache das nicht mit!

      „Bert, bleib hier,“ schrie Lene, als Norbert dem Vater vor die Tür folgte.

      Der Vater stand mit dem Rücken zur Tür in der Dunkelheit. Er hatte den Kopf gesenkt. Norbert zog die Tür von außen zu und schritt mit rasendem Puls auf den Vater zu.

       Soll er doch versuchen, mich umzubringen! Soll er doch!

      Hans Lederer drehte sich zu seinem Sohn um. Norbert hob die Fäuste. Er hatte einen Knüppel, eine Waffe erwartet, aber die Hände des Vaters waren leer.

      Statt mit der Faust zuzuschlagen, sagte Hans Lederer: „Norbert, nimm Vernunft an!“

      Norbert wollte ihn anschreien, aber der Vater befahl: „Hör mir zu!“

      Norbert senkte schwer atmend die Fäuste.

      „Du weißt, dass Gretes Kind krank ist. Vielleicht würde es kein Jahr alt werden. Selbst wenn es das siebente Lebensjahr überlebte, es würde ein Krüppel, eine Schwachsinnige. Wir können keine Kranken und Krüppel durchfüttern, Norbert! Du weißt das genauso gut wie alle im Dorf!“

      Keuchend starrte Norbert seinen Vater an. „Das ist noch lange kein Grund, sie...“

      Der Vater fiel ihm ins Wort. „Sie brauchen etwas, woran sie glauben können, Norbert. Etwas, was ihnen Mut macht, durchzuhalten. In dem Jahr, in dem du geboren wurdest, hatten wir eine Notzeit ähnlich der diesjährigen. Damals gab die Dorfgemeinschaft den lebensunfähigen Säugling der Gerlinde Hüttner an die Götter zurück. Der Segen stellte sich ein. Deine Mutter hätte dich nicht durchgebracht ohne den Erntereichtum dieses Jahres. Die Opfer sind nicht unnütz, Norbert!“

      Norbert spürte eine eisige Klaue nach seinem Herzen greifen. Die Wut wich einer Kälte, in der die Worte des Vaters und alle Dinge rings umher glasklar hervortraten. Norbert begriff, was er zu tun hatte.

      „Du wirst nach mir die Siedlung leiten,“ fuhr der Vater fort. „Es wird Zeit, dass du vernünftig wirst.“

      Ohne ein weiteres Wort ließ er Norbert stehen und betrat das Haus.

      Norbert folgte dem Vater stumm in die Wohnküche. Er ertrug die Umarmungen seiner weinenden Schwester ohne eine Regung, machte sich von ihr los, aß seine Schale leer, ging zu seiner Schlafstatt und legte sich lang. Er blieb auf dem Lager liegen, während die anderen sich um die Herdstelle setzten. Es wurde nichts gesprochen an diesem Abend an Hans Lederers Hof. Nur Hanna weinte leise auf Margits Schoß.

      In dieser Nacht träumte Norbert von dem Mädchen am Brunnen. Reglos, mit nassem Haar stand sie in der Finsternis und blickte mit dunklen Augen zu ihm herüber.

      ***

      Anderntags ging Norbert zur Arbeit an Björn Feldnersohns Hof wie alle Tage. Maja blickte ihn erschreckt an, als sie seine Miene sah, aber Norbert ging sofort an die Arbeit, ohne ein Wort mit ihr zu wechseln. Er mistete den Schweinestall aus, dann ging er hinauf in den Wald, um die Kaninchenfallen zu kontrollieren. Am frühen Nachmittag ging er zum Hof seines Vaters zurück. In der Wohnküche traf er niemanden an. Norbert holte den Bogen, den Köcher mit den Pfeilen, sein Messer und die Fußleder unter dem Lager hervor und wickelte sie in seinen Filzumhang. Dann schlich er zur Herdstelle. Mit angehaltenem Atem starrte er zur Tür und lauschte. Es waren keine Schritte vor der Haustür zu vernehmen. Rasch langte er nach dem Feuereisen und einem Feuerstein und ließ beides zusammen mit einem Büschel Wolle in seiner Hosentasche verschwinden. Er spähte zur Haustür hinaus – es war niemand zu sehen. Norbert schlich sich vom Hof und verbarg sein Bündel in Kurt Morgners Scheune. Den Rest des Tages spaltete er Holz hinter dem Haus der Feldnersohns und schichtete es auf.

      Maja kam, ihn zum Abendimbiss abzuholen. Stumm blickte er ihr entgegen. Sie nahm ihn an den Händen.

      „Du bist so blass. Was ist passiert?“

      „Ich gehe. Ich gehe weg von hier - nach Altenweil.“

      Maja wurde bleich. Sie suchte seinen Blick, aber Norbert wandte sich von ihr ab.

      „Ich werfe doch der Dämonin in der schwarzen Grotte nicht Gretes Säugling zum Fraß vor. Von dem Zauberer in Altenweil kann ich lernen, die Dämonen zu besiegen. Und dann komme ich wieder und töte sie.“

      Verzweifelt zog Maja ihn an sich.

      „ Bert, du darfst nicht gehen! Dein Vater bringt dich um!“

      „Nicht, wenn du es niemandem verrätst.“

      Sie klammerte sich an ihn, fuhr ihm mit ihren schmalen Händen über die Brust, Schultern und Wangen.

      „Liebster, bitte, bleib! Bleib bei mir. Wir haben uns doch versprochen...“

      Wild sah er sie an.

      „Komm mit mir, Maja!“

      Aber sie schüttelte nur schluchzend den Kopf. Norbert machte sich von ihr los. Er sah sie nicht an, während er vom Haus wegging.

      „Bert! Ich liebe dich! Bitte, Bert, bleib hier!“ weinte sie ihm hinterher.

      Er blickte sich nicht mehr nach ihr um.

      ***

      Norbert verbrachte die Nacht in Kurt Morgners Scheune, weil er befürchtete, im Heuschober seines Vaters könnte er von Lene und Roderig überrascht werden. Er wusste, dass Björn Feldnersohns Hofgemeinschaft glauben würde, er übernachte bei seiner Familie. Und dort würden sie meinen, er sei bei den Feldnersohns, bei Maja.

      Majas Weinen klang ihm im Ohr. Er hatte den Geruch ihres Kleids in der Nase. In seinem Magen rumorte der Hunger. Norbert wälzte sich auf seinem Lager aus leeren Getreidesäcken hin und her, aber je mehr er versuchte, die Gedanken an Maja zu verscheuchen, um so stärker wurden sie. Er zwang sich, nicht von seinem einmal gefassten Entschluss abzugehen. Die ganze Nacht über hörte er draußen in der Finsternis die Wölfin heulen.

      Als er den Morgen nahe glaubte, tastete er im Dunkeln nach seinem Bündel, schnürte sich die Ledersohlen unter die Fußlappen, hüllte sich in den Filzumhang und hängte den Köcher um. Die Bogensehnen steckte er sich unter die Hemdjacke, das Messer klemmte er in den Hosenstrick. Er nahm seinen Bogen und schlich aus der Scheune.

      Die Nachtluft war kalt und feucht. Der Mond stand weit im Westen hinter einer dünnen Wolkenschicht. Er war von einem orangeroten Hof umgeben. Der Felsenwald jenseits der Äcker lag in Nachtschwärze verborgen. Vom Fluss her stiegen Frühnebel auf. Sie schimmerten geisterhaft im Dämmerlicht des untergehenden Monds. Unter mehreren Strohdächern quoll der Rauch soeben entfachter Herdfeuer hervor.

      Norbert schlich geduckt durch die Siedlung und hastete zum Fluss hinunter. Außer Atem blickte er sich um. Noch war keine Menschenseele zwischen den Hütten zu sehen. Norbert zwang sich, ruhig zu atmen. Er schlug den Weg flussaufwärts durch die feuchte Flussaue ein. Noch einmal blickte er sich zur Siedlung um. Zwischen treibenden Nebelschwaden erhaschte er einen Blick auf die Hütten Wildenbruchs. Er spürte keine Wehmut, aus dem Dorf seiner Kindheit, von Maja, seiner Jugendliebe, wegzugehen. Wenn er überhaupt etwas empfand außer der Angst, im letzten Moment entdeckt zu werden, dann war es bittere Enttäuschung. Er wunderte sich darüber. Er dachte, er würde mit den Tränen zu kämpfen haben. Aber da war nur die dumpfe Wut, die ihn begleitet hatte, so lange er denken konnte. Und ein jagendes, überschäumendes Gefühl, das ihm neu war: das Gefühl, frei zu sein, zu gehen, wohin er wollte.

      Er ließ die Auenniederung hinter sich und folgte dem überwucherten Pfad durch das Buschwerk unterhalb der noch im Dunklen liegenden Elbenruinen. Auf dem Pfad standen zwei hochgewachsene Gestalten. Er sah ihre ernsten, blassen Mienen, umgeben vom langen, blonden Elbenhaar. Sie hatten keine Waffen in den Händen. Schweigend traten