Thomas Hoffmann

Blaues Feuer


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kann das gar nicht anhören. Was sollen wir denn machen, wie sollen wir denn um Segen bitten?“

      „Wir müssen es eben aushalten, bis es wieder besser wird,“ murmelte Norbert.

      Im Sommer wurde Norbert fünfzehn. Zu Sonnenwend schenkte Björn Feldnersohn seinem zukünftigen Schwiegersohn einen Jagdbogen, Köcher und Pfeile. Am Morgen nach der Sonnenwendfeier legte der Vater Norbert ein in Leinen gewickeltes Bündel auf den Tisch. Darin war ein Messer. Die Stahlklinge war eine Spanne lang. Norberts Herz machte einen Sprung.

      „Du wirst ein Mann,“ knurrte der Vater. „Für deine Jagdstreifzüge kannst du ein vernünftiges Messer gebrauchen. Ich hab es letzten Herbst aus Altenweil für dich mitgebracht. Aber bilde dir nichts darauf ein. Gegen die von jenseits der Grenze nützt es nichts.“

      Maja schenkte ihm eine wollene Schlupfjacke.

      „Ich hab sie selbst gestrickt. Mutter meinte, dafür sei es noch zu früh, ich soll dir erst zur Hochzeit was schenken, aber ich wollte unbedingt dieses Jahr schon etwas für dich machen.“

      Die beiden saßen auf der Bank vor Björn Feldnersohns Haus. Die Familie war bereits zur Hofarbeit auseinandergegangen. Norbert betrachtete die braun gemusterte Jacke. Maja gab ihm einen Kuss auf die Wange.

      Er nahm ihre Hände. „Wo du jetzt Schmalzkuchen backen kannst, da kann ich dir doch auch zeigen, wie man sich richtig küsst.“

      Vor Überraschung blieb ihr der Mund offen stehen. Norbert drückte schnell seinen Mund auf ihre Lippen. Sie wehrte sich nicht.

      Als sie sich genug geküsst hatten, flüsterte sie: „Nachher gehe ich Holzsammeln. Die kleine Lichtung bei den Haselsträuchern, weißt du, welche ich meine?“

      Norbert nickte. Sein Herz begann zu rasen.

      „Ich warte dort auf dich,“ hauchte sie. „Kommst du?“

      Norbert konnte wieder nur nicken. Er brachte kein Wort hervor. Sie küssten sich noch einmal.

      Es war ein heißer, trockener Sommer nach dem verregneten Frühling. Staubige Hitze brütete zwischen den Haselsträuchern, als Norbert sich mit klopfendem Herzen durch die Büsche zwängte. Es roch nach Harz und Kiefernnadeln. Maja wartete auf ihn auf der kleinen Grasnarbe zwischen den Sträuchern. Sie saß barfuß mit angezogenen Beinen im braunen Gras. Ihre bloßen Unterschenkel lugten unter ihrem Kleid hervor. Die Kiepe mit dem Klaubholz stand bei den Büschen.

      Wie hübsch sie ist, dachte Norbert, während er das hagere Mädchen betrachtete.

      Mit mulmigem Gefühl im Bauch setzte er sich neben sie. Der Staub trockener Grasrispen kitzelte ihn in der Nase. Maja strich sich die Locken hinters Ohr. Sie versuchte ein schüchternes Lächeln. Norbert nahm sie in die Arme.

      „Ich liebe dich, Maja.“

      Sie küssten sich. Norbert war schwindlig.

       Und jetzt? Was kommt jetzt?

      Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Und er konnte überhaupt nicht denken. Er nahm nichts wahr, als Majas warme, aufregende Nähe. Sanft schob sie ihn weg und begann, an ihrem Kleid zu nesteln.

      „Ich muss mich ausziehen,“ erklärte sie leise. „Mädchen bluten beim ersten Mal, wusstest du das?“

      Norbert schüttelte stumm den Kopf. Er wusste nicht, warum er sich plötzlich schämte.

      „Jedenfalls behauptet Liese das. Sie sagt, ihre Mutter hätte es ihr erklärt.“

      Sie trauten sich kaum, einander anzuschauen, während sie ihre Kleider abstreiften und sich zueinander ins trockene Gras legten. Und obwohl sie beide von Kindheit an mitbekommen hatten, was nachts auf den Lagern in den Wohnküchen passierte, mussten sie feststellten, dass sie es so ganz genau doch nicht mitgekriegt hatten.

      „Nicht so,“ flüsterte Maja. „Ich glaube, du musst... Ja, da – Au!“

      Ein jagendes, unendlich süßes Gefühl durchfuhr Norbert und ein paar Atemzüge lang wusste er nicht mehr, was er tat.

      Als er sich außer Atem neben Maja legte, murmelte sie: „Es hat nur ganz wenig geblutet.“

      Es klang enttäuscht.

      Doch Majas fester Entschluss, in ihrer Liebe zu Norbert Erfüllung zu finden, bewahrte die Jugendlichen vor einer ersten großen Ernüchterung. Noch scheu und vorsichtig ertasteten sie einander, ließen ihre Körper einander kennenlernen.

      Als die beiden am Nachmittag zum Hof von Majas Vater zurückkehrten, lag ein heimliches Glück auf ihren Gesichtern.

      In der Wohnküche empfing sie Majas Mutter. „Heut ist wohl kein Arbeitstag für euch beide? Deine ganze Küchenarbeit ist liegengeblieben, Maja – und Vater ist allein zur Jagd gegangen!“

      Als sie in die Gesichter der beiden sah, wurde sie milder. „Na, setzt euch noch ein bisschen auf die Bank. Ich koche euch einen Tee.“

      Sie fuhr Maja durch die zerrauften Locken. „Alles in Ordnung, Töchterchen?“

      Majas Augen glänzten vor Glück. „Ja, Mama.“

      ***

      Wenn Norbert später an diesen Sommer zurückdachte – seinen letzten in Wildenbruch – dann konnte er sich einzig an Maja erinnern, an ihre Liebe, ihren Körpergeruch, den Sommerduft ihres einfachen Kleids. Das Vertrocknen der Ernte, der Streit zwischen Verena Methorsts Söhnen Ulf und Boris um den Anteil an den kargen Erträgen des Hofs, die Schlichtung durch Björn Feldnersohn und Hans Lederer, all das zog an ihm vorüber, als ginge es ihn nichts an. Er lebte und arbeitete nur für die ein, zwei Stunden, die er nach der Hofarbeit mit Maja verbrachte. Sie gingen Hand in Hand hinunter zur Flussaue oder saßen nebeneinander auf der Bank vor dem Haus und plauderten. Oder sie zogen sich vor den anderen zurück in den Wald, auf die kleine Grasnarbe zwischen den Haselsträuchern, die sie „ihre Lichtung“ nannten. Maja holte sich Rat bei Leika, die ihr erklärte, wie sie sich verhalten musste, um nicht schwanger zu werden. Norbert und Maja schworen sich bei allen Sternen am Himmel, zueinander zu stehen bis an ihr Lebensende.

      ***

      Von seiner Herbstreise brachte Hans Lederer Säcke voller Getreidemehl mit, so viele der Esel tragen konnte. Was die Familie auf den eigenen Feldern geerntet hatte, reichte nicht, um durch den Winter zu kommen. Für Norbert brachte der Vater zwei Fußleder mit. Sie waren an den Seiten gelocht, damit man sie unter die Fußlappen schnüren konnte.

      „Wirst schließlich erwachsen,“ knurrte Hans Lederer.

      „Ich kann auch für unsere eigene Familie jagen gehen, damit wir besser durch den Winter kommen“ erklärte Norbert.

      „Red keinen Unsinn,“ fuhr der Vater ihn an. „Du arbeitest für Björn Feldnersohn um der Maja willen. Lass dir ja nicht einfallen, nachlässig zu werden. Bei uns arbeitet Roderig mit. Wir kommen zurecht.“

      Der Winter nahm die Siedlung in seinen eisigen Griff. Im

      Heulen des Sturms und im Krachen der Bäume in der Kälte glaubten die Wildenbrucher die Dämonen heranschleichen zu hören. Björn Feldnersohns alter Vater erkrankte am Schüttelfieber. Die Feldnersohns hüllten ihn in Decken, rückten seinen Lehnstuhl nahe ans Herdfeuer und Majas Mutter flößte ihm Tag und Nacht schluckweise Brühe und heißen Tee ein. Er starb in den ersten Januartagen. Norbert half, das Grab im gefrorenen Boden auszuheben.

      Grete war schwanger. Oliver und sie zogen hinüber ins Haus ihres Vaters, wo das große Herdfeuer mehr Wärme spendete und die Familie sich um die Schwangere kümmern konnte.

      Anfang März änderte sich das Wetter. Mit heftigen Frühjahrsstürmen setzte die Schneeschmelze ein. Regengüsse verwandelten den Boden in der Auenniederung und den Talwiesen in Morast. Die Gorn stieg über die Ufer. Schmelzwasser und Regenfälle in den Bergen verwandelten den Fluss in eine strudelnde schlammige Flut, die binnen einer Nacht die Siedlung, die Tiergatter und die Felder mit dem im Herbst gesäten Winterweizen überschwemmte,