Thomas Hoffmann

Blaues Feuer


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retten konnten, an die Dachbalken und übernachteten in klammer Kälte im Gebälk. Erst Tage später nahm die Flut ab. Viele der Frauen weinten vor Verzweiflung über die Zerstörungen. Die Männer sichteten stumm den Schaden, pferchten die überlebenden Tiere ein, pflügten die verwüsteten Felder um und bereiteten das wenige, was sie an Saatgut gerettet hatten, zur Aussaat vor.

      Die Flutschäden waren noch nicht repariert und die Böden der Hütten bedeckte noch immer eine knöcheltiefe Schlammschicht, als Gretes Wehen einsetzten. Die Frauen hatten die Geburt erst in einem halben Monat erwartet. Aber die Strapazen der vergangenen Wochen hatten Grete zugesetzt. Beim Herdfeuer errichteten die Morgners ein Deckenlager. Leika kam, um bei der Geburt zu helfen. Die Männer, auch Oliver, wurden aus dem Haus verwiesen. Es wurde eine lange, schwere Geburt und als die Frauen das Blut von dem schreienden Neugeborenen abwuschen, war seine Haut von einem ungesunden Rot und seine Oberlippe war gespalten. Die Geburtshelferinnen beschlossen, es sei ein Mädchen, obwohl das Neugeborene sowohl ein weibliches als auch ein männliches Geschlechtsorgan zu haben schien.

      Der Säugling schrie pausenlos mit einer heiseren, röchelnden Stimme, die anders klang als die anderer Neugeborener. Die verzweifelte Grete ließ ihn nicht von ihrer Brust und Leika zeigte ihr, wie sie ihn an die Brustwarze anlegen musste. Oliver und die Männer wurden auf Abstand von der Mutter und dem Neugeborenen gehalten, aber es merkten doch alle, dass etwas nicht stimmte. Schnell sprach sich in der Siedlung herum, die Grete habe ein krankes, verkrüppeltes Kind zur Welt gebracht.

      Als der Säugling nach drei Tagen wider Erwarten nicht gestorben war und trotz dem unverminderten heiseren Röcheln ein wenig kräftiger wurde, bekam er den Mädchennamen Wanda. Oliver nahm das schreiende Bündel in die Arme.

      „Sei vorsichtig!“ schrie Grete, die ihr Kind noch immer kaum zum Wickeln und Waschen aus den Händen geben wollte.

      Oliver brachte das Neugeborene, von dem nur das rötliche, vom Schreien verzerrte Gesicht mit der Hasenscharte zu sehen war, nah an sein Gesicht.

      „Wanda, du bist meine Tochter,“ sagte er mit brüchiger Stimme. „Ich will für dich und deine Mutter sorgen und ich werde dich großziehen.“

      Die Gesichter der Hofmitglieder und Freunde um das Paar entspannten sich. Mehrere atmeten auf. Nur einige schüttelten stumm die Köpfe.

      ***

      In diesen Tagen erinnerten sich die Wildenbrucher abends an den Herdfeuern an die Sage vom Geisterdorf. Norbert hörte die Sage zum ersten Mal bei den Feldnersohns, wo Majas Großmutter sie nach dem Abendessen erzählte. Schon im Winter hatte Norbert hin und wieder bei den Feldnersohns in der Wohnküche übernachtet, wenn der Sturm ihm nach der Tagesarbeit daran hinderte, zum Hof des Vaters zurückzukehren. Dann gab ihm Majas Mutter eine Decke und er und Maja schliefen nebeneinander auf ihrem Lager. Außer Norberts Schwester Lene fand niemand etwas dabei.

      „Das kann man in den Wochen vor der Hochzeit machen, aber doch nicht jetzt schon,“ hatte sie geschimpft, als Norbert am Morgen nach seiner ersten Übernachtung bei den Feldnersohns nach Hause kam.

      „Aber hinten beim Heuschober rumknutschen und mitten während der Tagesarbeit heimlich für ein paar Stunden ins Heu schleichen, das kann man?“ erwiderte Norbert seiner Schwester.

      Lene zischte verächtlich und lief durch den Schnee davon. Aber Norbert hatte doch gesehen, wie sie knallrot wurde.

      Die Feldnersohns saßen um die knisternde Glut der in den Boden eingelassenen Herdstelle. Rings umher lag die Wohnküche im Dunkeln. Die Luft war dumpf und feucht. Gebälk und Fußboden waren noch nicht getrocknet seit der Überflutung. Maja rückte dicht an Norbert heran und nahm seine Hand in ihre. Er liebte es, so nah bei ihr zu sitzen, dass er den Schweißgeruch ihres Kleids riechen konnte. Norbert träumte von diesem Geruch, wenn er allein auf seinem Lager am väterlichen Hof übernachtete.

      „Vor langer Zeit, viele Tagereisen von hier im Osten, wo der Gornwald sich weit hinauf in die wilden Berge erstreckt,“ begann die Großmutter ihre Erzählung, „gründeten Siedler am Oberlauf der Gorn eines der ersten Siedlungsdörfer im Gornwald. Damals waren die Wälder noch von Elben bewohnt und die Siedler der ständigen Gefahr eines Überfalls ausgesetzt. Erst Jahrhunderte später ließ der Kaiser den Gornwald durch Strafexpeditionen seiner Ritter von den Wilden säubern.“

      Norbert verzog das Gesicht. Er dachte an den Geist der Elbin mit dem erschlagenen Säugling im Arm. Maja drückte fest seine Hand.

      „Die Siedler nannten ihr Dorf Schwarzenrode. Die ersten Jahre gedieh die Siedlung gut und die Siedler lebten im Überfluss von Feldfrüchten und von der Jagd. Aber dann kam eine Reihe strenger Winter und das Leben in Schwarzenrode wurde hart. Als nach der ersten guten Herbsternte seit Jahren Elben das Dorf überfielen, mehrere Männer töteten, die Ernte, Vieh und auch einige Mädchen wegführten, verließ die Überlebenden der Mut. Sie hatten den Siedlerschwur getan, ihr Siedlungsland der Wildnis auf immer zu entreißen und die Siedlung unter Einsatz ihrer aller Leben zu behaupten. Doch in der Dorfversammlung setzten sich die Stimmen einiger Männer durch, die behaupteten, in der Zivilisation würden sie alle besser leben können. Obwohl der Kaiser ihnen per Dekret Schwarzenrode unabänderlich als Siedlungsort zugeschrieben hatte.“

      Ein drohender Tonfall schien in den heiseren Worten der Großmutter mitzuschwingen.

      „Die Dorfleute beschlossen, ihr Hab und Gut auf Karren zu laden und Schwarzenrode und den Gornwald vor Wintereinbruch zu verlassen. Am Abend vor dem Aufbruch kamen alle zusammen, um ein letztes Fest miteinander in der Siedlung zu feiern. Es wurde ein trauriges Fest. Stumm und mit schlechtem Gewissen saßen sie beim Mahl. Als nach dem Essen zum Tanz aufgespielt wurde, tanzten die jungen Leute ohne Freude miteinander. Immer wilder drehten die Paare sich, einander verzweifelt umklammernd, im hektischen Tanz Vergessen suchend vor dem Eidbruch, den der nächste Morgen bringen sollte. Und draußen vor dem Haus heulten die Dämonen im Nachtwind.“

      Die Greisin machte eine Pause und blickte mit brennenden Augen in die Runde. Es war absolut still, nur die Holzkohlen knackten in der erlöschenden Glut.

      „Um Mitternacht hielten die Tanzenden plötzlich inne. Atemlos lauschten sie in die Dunkelheit, aber es war kein Laut mehr zu hören, kein Windheulen, keine Musik, nicht einmal mehr ein Knacken im Gebälk oder jemandes Atem. Der Fluch legte sich über sie mit blinder Schwärze und die Menschen in der Siedlung erstarrten zu Stein um ihres Eidbruchs willen. Die Siedlung verschwand wie vom Erdboden verschluckt. Wo sie einst stand, befindet sich heute ein undurchdringliches Dornengestrüpp, aus dem ein Pesthauch denjenigen anhaucht, der dort hinein vordringen will. Nur einmal alle hundert Jahre erwacht das Dorf für einem Tag zum Leben und die Schwarzenroder müssen den letzten Tag vor ihrem geplanten Aufbruch noch einmal durchleben, wissend, dass um Mitternacht der Todeshauch sie ergreifen wird, dass sie in alle Ewigkeit verdammt sind, als Untote auszuharren an dem Ort, der ihnen als Siedlung zugeschrieben wurde.“

      „So geht es denen, die den Schwur brechen und ihre Siedlung aufgeben wollen,“ endete die Alte ihre Erzählung.

      ***

      Nach der Überschwemmung blieb der Regen aus und die Ernte des Frühgemüses fiel spärlich aus. Die vor der Flut geretteten Vorräte gingen schnell zur Neige. Die Wildenbrucher stellten oben im Wald Kaninchenfallen auf und wer Bogen und Pfeile besaß, ging auf die Jagd. Aber auch so reichte es kaum noch zum Leben. Die Kinder durchstreiften den Wald in der Nähe der Siedlung auf der Suche nach Käferlarven und aßen sie vor Hunger gleich vor Ort. Die Kleinsten bekamen aufgeblähte Hungerbäuche vom ständigen Wasser trinken, um wenigstens etwas im Magen zu haben. Mit hohlen Augen und blassen Gesichtern gingen die Wildenbrucher ihrer Hof- und Feldarbeit nach.

      „Die schwarze Dame will ein Opfer haben,“ murmelte Norberts Mutter am Abendbrottisch.

      Ein Teller Radieschen, gerade zwei oder drei für jeden, und eine Schüssel Brühe mit ein paar Stückchen Kaninchenfleisch waren alles, was auf dem Tisch stand.

      „Sie ist wütend. Wir haben sie erzürnt,“ hauchte die Mutter in ihrem weinerlich-klagenden Tonfall.

      „Wie sollen wir sie denn erzürnt haben?“ fuhr Norbert