Thomas Hoffmann

Blaues Feuer


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Vater schritt durch den tiefen Schnee zwischen den Hütten hindurch. Verdutzt bemerkte Norbert, dass er den Dolch an der Seite trug, den er auf der Fahrt nach Altenweil dabeigehabt hatte. Norbert zitterte vor Kälte, während er Vaters schwarzer Silhouette nacheilte. Verzweifelt fragte er sich, was geschehen würde. Der Vater ging zur Flussaue hinunter. Neuschnee war gefallen und sie kamen nur mühsam voran. Ein Haufen aus Tannenzweigen tauchte aus der Dunkelheit im Schnee auf. Erst als sie ihn beinahe erreicht hatten, begriff Norbert, dass es sich um das Grab der Mühlhäuserin handelte.

      Sie stand neben ihrem Grab. Im Grau der Wolkennacht war sie nur als Schatten auszumachen. Verkrümmt kauerte sie in der Dunkelheit, als wände sie sich unter Schmerzen. Auf ihrem Wollkleid waren dunkle Flecken.

      Norbert blieb wie angewurzelt stehen.

      „Siehst du sie?“ hörte er Vaters grimmige Stimme.

      Er konnte nicht antworten. Der dunkle Schemen wandte sich ihm zu. Die zwei blassen Flecken im Kopf konnten nur ihre aufgerissenen Augen sein. Die blinden Augäpfel starrten ihn an. Norbert wollte schreien, weglaufen, aber er konnte sich nicht rühren. Er bekam keinen Ton heraus. Hinter dem Grab wich die Nacht einem blauen Halblicht. Die Gestalt schleppte sich Norbert entgegen. Ein gequälter Ton lag in der Luft. Er hatte keine Ähnlichkeit mit einer menschlichen Stimme. Weiße, lange Finger krallten nach Norbert. Eisige Kälte hauchte ihn an.

       Flieh, lauf weg, sie zieht dich hinab!

      Aber seine Glieder gehorchten ihm nicht.

      Eine rasche Bewegung an Norberts Seite. Er meinte, Vaters Dolch aufblitzen zu sehen. Ohrenbetäubendes Krachen. Blendende Helle. Norbert taumelte zur Seite. Er konnte sich wieder bewegen. Einen Moment musste er blinzeln, ehe er wieder etwas sehen konnte. Der Geist war verschwunden. Die Auenniederung lag in grauer Nacht. Der Vater stand zwei Schritt neben ihm und hielt sich die Hand mit dem glühenden Dolch, als hätte er Schmerzen. Mit stockendem Atem starrte Norbert den Vater an. Hans Lederer steckte seinen Dolch in die Scheide zurück und richtete sich auf.

      „Das war dir wohl eine Lehre! Sie sind gefährlich, verstehst du? Jetzt wirst du vielleicht endlich klug werden!“

      Der Vater drehte sich um und stiefelte dem Dorf zu. Mit Tränen in den Augen stolperte Norbert ihm nach. Auf halbem Weg wartete der Vater auf ihn. Er legte Norbert seine schwere Hand auf die Schulter.

      „Wir Siedler müssen zusammenhalten. Wenn du später deinen eigenen Hof gründen willst, mit der Maja Feldnersohn von mir aus, dann musst du klug sein. Eines Tages wirst du meinen Dolch und meine Fibel erben. Dann musst du das Dorf beschützen, Norbert!“

      Norbert konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.

      „Ja,“ flüsterte er.

      ***

      Bis weit in den März hinein blieb der Schnee liegen. Mehl und Trockenfrüchte wurden knapp. Morgens wie abends gab es dünne Scheiben Dörrfleisch mit einer winzigen Portion gekochtem Kohl oder Bohnen. Das zähe Fleisch war Norbert zuwider. Obwohl er Hunger hatte, brachte er es kaum hinunter. Wenn Mutter wenigstens ein bisschen mehr Salz zum Essen geben würde!

      Jeden Abend vor Sonnenuntergang trafen sich die Wildenbrucher Kinder am Dorfausgang nahe dem Wald, machten Feuer und rösteten Kastanien, die sie im Herbst gesammelt und versteckt hatten. Manchmal mussten sie vor Wildschweinen Reißaus nehmen, die auf der Suche nach Nahrung nahe ans Dorf kamen.

      Immer seltener hörte Norbert das Heulen der Wölfin in seinen Träumen. Wenn er Maja während der Arbeit im Dorf begegnete und sie eine kurze Strecke Hand in Hand gemeinsam gingen, vergaß er die schwärende Wut, die ihn früher überallhin begleitet hatte. Auch den Vater betrachtete er mit anderen Augen.

      Wenn ich erwachsen bin, ging es ihm durch den Kopf, werde ich unser Dorf vor den Dämonen beschützen, wie Beowulf Hrothgars Halle vor Grendel beschützt hat.

      Als das Tauwetter einsetzte, verschwand die Wölfin ganz aus Norberts nächtlichen Träumen.

      Die Schneemassen verwandelten sich in Bäche und Schmelzwasserlachen. Die Gorn trat über die Ufer, die Auenniederung versank im Strom, aus dem die Stämme der Erlen und Eschen herausragten. Der Felsenbach schwoll an zum gurgelnden, reißenden Sturzbach, der sich schäumend ins schmutzige Wasser der Gorn ergoss. Das Dorf versank im Schlamm. Die Wildenbrucher legten Knüppelpfade aus Zweigen und Brettern zwischen den Hütten an, um nicht im knietiefen Morast zu versinken.

      Die Männer begannen, Koppelzäune und Ställe zu reparieren. Die Schafe wurden geschoren. Frauen und Mädchen filzten und spannen Wolle. In allen Höfen wurden Frühlingslieder gesungen. Obwohl die Wildenbrucher unter Hunger und Krankheit litten nach dem Winter, lag Heiterkeit auf ihren blassen Gesichtern in Erwartung des nahen Frühlings.

      Am Eingang zu Björn Feldnersohns Hof, wohin Norbert gekommen war, um sein Mädchen zu besuchen, nahm Maja ihn an den Händen und gab ihm einen Kuss auf den Mund.

      „Wegen dir haben wir den Winter überlebt,“ strahlte sie ihn mit gerötetem Gesicht an. „Alle wissen das. Ich glaube, du wirst wirklich ein Held – wie Beowulf.“

      „Klar,“ meinte Norbert. „Wir Siedler müssen zusammenhalten.“

      Beim diesjährigen Frühlingsopfer nach der Schneeschmelze stand Norbert vorn in der Klamm nah bei seinem Vater. Der Vater trug die magische Fibel und hatte den Dolch umgegürtet. Norbert wusste, dass die Dämonin nicht in Vaters Nähe kommen würde.

       Sie ist zu stark, als dass Vater sie mit dem Dolch besiegen könnte. Aber sie traut sich nicht heraus. Wenn ich erwachsen bin, werde ich ein magisches Schwert besitzen, mit dem ich sie erschlagen kann.

      Er beschloss, fest an die Erfüllung dieses Traums zu glauben.

      4.

      Mit dreizehn Jahren begann Norbert mehrere Stunden in der Woche, manchmal auch ganze Tage auf Björn Feldnersohns Hof zu arbeiten. Hans Lederer billigte es, obwohl die eigene Hofarbeit kaum noch zu bewältigen war. Beorns Sohn Oliver arbeitete bereits die meisten Tage der Woche wegen der Grete bei Kurt Morgner. Margit wohnte seit dem vergangenem Jahr mit Ulf Methorst im eigenen neuerrichteten Holzhaus beim Hof von Ulfs Mutter Verena.

      Björn Feldnersohn nahm Norbert ohne Vorbehalte auf. Er redete zu ihm wie zu einem jungen Erwachsenen, nicht wie zu dem Kind, als welches ihn Lene immer noch behandelte. Norbert mochte die ruhige, besonnene Art, auf welche Björn Feldnersohn mit seiner Familie umging. Er schrie nicht und grollte nicht. Wenn er etwas zu kritisieren oder zu tadeln hatte, sprach er jede und jeden mit Bestimmtheit, aber ruhig an. Und er hörte immer zu, wenn jemand sich über etwas beschwerte. Nie gab es am Hof Björn Feldnersohns jenes lastende Schweigen, das Norbert von zuhause her kannte. Zu allen möglichen Anlässen wurde gesungen.

      „Deine und unsere Familie sind die ersten und ältesten in Wildenbruch, Norbert,“ sagte Björn Feldnersohn dem Jungen, während sie gemeinsam den Weidenzaun hinter dem Haus ausbesserten.

      „Es ist schön, dass du zu uns kommst.“

      Der Familienvater warf einen wohlwollenden Blick auf Maja, die mit einem Eimer Wasser vorbeikam und so tat, als würde sie ihren Vater und Norbert nicht sehen.

      Lene verspottete Norbert.

      „Was willst du da bei den Feldnersohns, du bist doch viel zu jung dafür, um die Maja zu freien!“

      Norbert stellte seine Holzkiepe ab, richtete sich auf und blickte seiner eineinhalb Jahre älteren Schwester in die Augen.

      „Weißt du, was Petra dazu sagen würde?“

      „Petra?“

      „Das Holzpüppchen, das du mir vor vier Jahren geschenkt hast.“

      Er holte die kleine Figur aus der Hosentasche und zeigte sie Lene.

      „Ach,“ spottete Lene, „damit spielst du noch?“

      „Nein,