Thomas Hoffmann

Blaues Feuer


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dass es Petra überhaupt nicht gekümmert hatte, wenn er Rotz hochziehen musste.

      ***

      Am Abend trafen die Wildenbrucher Kinder sich am Waldrand am gegenüberliegenden Ende der Weidewiese. Die Wiese und das Dorf lagen im Schatten. Über den bewaldeten Felsen glühte der Himmel in sanftem Rot. Unten auf dem Fluss funkelten letzte Sonnenstrahlen.

      Maja setzte sich neben Norbert ins Gras. Die Kinder blickten Norbert gespannt und ein wenig scheu an. Lene reckte stolz den Hals und blickte triumphierend in die Runde, als wäre sie es gewesen, die die Marktreise gemacht hätte.

      „Und?“ wollte Roderig wissen. „Haben sie dich geheilt? Kannst du keine Geister mehr sehen?“

      „Doch, kann ich, es ist ja keine Krankheit. Leika sagt, es ist eine Gabe. Und der Abenteurer in Köhlershofen hat es auch gesagt. Im Kloster heilen sie nur Krankheiten.“

      „Petra, mein Püppchen, das ich ihm gegeben habe, hat ihm geholfen!“ jubelte Lene.

      Alle bestürmten Norbert mit Fragen, alles sollte er erzählen, aber Roderig winkte forsch ab.

      „Woher weißt du, dass du es noch kannst?“

      Norbert spürte einen Stich in der Brust. „Da... da war ein Mädchen am Brunnen in Köhlershofen. Sie ist vor vielen Jahren in den Brunnen gefallen...“

      „Und?“ Roderig kniff die Augen zusammen.

      Norberts Stimme war belegt. „Ich hab sie am Brunnen stehen gesehen. Sie hat nach mir gerufen...“

      „Bist du hingegangen?“

      Norbert schüttelte den Kopf. Er spürte, wie sich ihm die Nackenhärchen aufrichteten, wenn er an das Heulen der Wölfin dachte. Und konnte er sie nicht eben jetzt in der Dämmerung hören – drüben in den Schatten der nebelumflossenen Elbenruinen? Töne drangen an sein Ohr, fern und sehr leise.

      „Erzähl uns von Altenweil!“

      Die Stimmen der Gefährten rissen ihn aus seiner Trance. Norbert erzählte.

      „Die Stadt hat eine hohe, dicke Mauer aus Stein und die Häuser stehen ganz eng beieinander, so dass man kaum dazwischen hindurch kommt. Sie sind so hoch wie zwei, sogar drei Häuser übereinander gebaut und oben sind sie so schief, dass sie jeden Moment einstürzen können. Und das tun sie sicher auch immerzu. Die Wege zwischen den Häusern sind voller Dreck, den niemand wegfegt und auf den Wegen sitzen Kriegskrüppel, die im Krieg zusammengehauen worden sind und halten den Leuten ihre Stümpfe entgegen. Aber niemand gibt ihnen was, weil sie niemandem mehr nützen und sie müssen verhungern.“

      Entgeistert starrten die Kinder Norbert an.

      „Aber in Altenweil ist doch der Markt!“ protestierte Horst. „Alles kann man da kaufen, alles, was es auf der ganzen Welt gibt. Das muss doch eine ganz wunderbar reiche Stadt sein!“

      „Ja,“ gab Norbert zu. „Hinter dem Markt, da wohnen lauter Könige und Fürsten in steinernen Schlössern. Da dürfen die Bettler nicht hin. Aber da sind Bettelkinder und alte Lumpenweiber auf dem Markt, die versuchen, heimlich was zu essen zu stehlen. Die Marktleute schlagen sie tot, wenn sie sie erwischen. Und die Kriegsknechte gucken nur zu.“

      Beim Diskutieren über Norberts unglaubliche Erzählungen vergaßen die Kinder die Zeit. Erst als es stockdunkel geworden war, viel zu spät, um noch rechtzeitig nachhause zu kommen, schlichen sie zurück zu ihren Familien.

      ***

      Am folgenden Nachmittag hielt Leika Norbert am Arm fest, als er den Eimer mit den Küchenabfällen aus der Wohnküche zum Schweinestall tragen wollte. Der Vater war noch nicht vom Holzfällen zurück. Leika und Norbert waren allein in der Küche.

      „Wie ist er mit dir umgegangen auf der Reise? Ging alles gut?“

      Norbert stellte dem Abfalleimer wieder hin.

      „Vater war ganz anders als sonst. Er hat mit mir geredet, weißt du?“

      Leika hörte ihm aufmerksam zu. Mit einem Mal überkam Norbert all die Empörung und die Wut, die er seit der Reise in sich hineingefressen hatte.

      „Vater hat gesagt, im Gornwald leben wir an der Grenze zu den Toten, aber das Land gehört jetzt uns, nicht mehr ihnen. Dabei haben wir es ihnen doch weggenommen! Vater hat mir verboten, über die Grenze auf die andere Seite hinüberzuschauen, dabei geht er selber hinüber und nimmt den Elben ihr Holz weg, um es dem Zauberer in Altenweil zu verkaufen. Daher kommt nämlich unser Geld! Aber die Hälfte davon gibt er seiner Freundin in Altenweil, damit sie mit ihm...“

      Leika gab ihm einen Klaps auf den Mund. „Halt den Mund, über so was redet man nicht!“

      „Ja, das hat sie auch gesagt. Aber getan hat sie‘s doch mit ihm.“

      „Sei still, Norbert!“

      Norbert war außer sich vor Wut. „Und ich sag‘s doch! Allen sag ich‘s! Auch das mit dem Elbenholz und dass er gewusst hat, dass die schwarze Dame Smeta fressen würde und trotzdem hat er Smeta hingehen lassen!“

      „Das wirst du nicht tun!“

      Etwas in Leikas dunklen Augen machte Norbert benommen. Auf einmal konnte er seine Wut nicht mehr spüren. Atemlos starrte er Leika an.

      „Du wirst das alles für dich behalten, Norbert. Deine Gabe bedeutet auch die Pflicht, sie nicht zum Schaden anderer einzusetzen, hörst du? Du hast die Pflicht, der Dorfgemeinschaft zu dienen, wie wir alle, damit wir überleben können. Du darfst die Gemeinschaft nicht zerstören. Hast du mich verstanden?“

      Die Elben wurden alle ermordet. Warum hatte niemand die Pflicht, sie zu schützen? dachte Norbert.

      Aber aus irgendeinem Grund konnte er es nicht sagen. Stattdessen nickte er stumm. Es kam Norbert wie eine halbe Ewigkeit vor, bis Leika diesen dunklen Blick von ihm wandte. Noch immer fühlte er sich benommen.

      „Wenn du groß bist, wirst du den Hof deines Vaters übernehmen,“ sagte Leika in milderem Ton. „Denk an deine Pflicht! Wir Grenzsiedler müssen zusammenhalten!“

      Norbert schwamm der Kopf. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Es kam ihm so vor, als sei das, was Leika sagte, ungerecht, aber er hatte vergessen, warum. Und wahrscheinlich stimmte es doch alles. Noch einmal nickte er verlegen. Leika fuhr ihm mit einer versöhnlichen Geste durchs Haar.

      „Nun geh schon die Schweine füttern.“

      ***

      Norbert erzählte nichts mehr von der Reise. Er erzählte auch niemandem, was der Vater ihm auf der Fahrt gesagt hatte. Wenn die wildenbrucher Kinder ihn drängten, gab er wortkarg ein paar Eindrücke aus Altenweil von sich und ließ die Gefährten das Gesagte diskutieren oder mit ihrer Fantasie ausschmücken, ohne sich einzumischen.

      Nur Maja, niemandem sonst, erzählte er von dem Mädchen mit den Schmalzkuchen. Zufällig begegneten Maja und Norbert einander beim Reisigsammeln auf einer Waldlichtung oberhalb der Flussaue. Sie setzten sich auf einen umgestürzten Baumstamm zwischen jungen Birken in die Sonne. Norbert teilte einen geklauten Dörrapfelring mit Maja und erzählte von seiner Begegnung mit Melanie.

      „Ich hab ihr einen Schmalzkuchen gegeben für einen Kuss.“

      „Sie hat dich geküsst?“

      „Ja, warum denn nicht!“

      Maja blickte verlegen zur Seite.

      „Ich kann gar keine Schmalzkuchen backen,“ flüsterte sie.

      Norbert schaute ihr ins Gesicht. „Aber das macht doch nichts!“

      Maja wurde rot. Ihre Augen strahlten. Schnell nahm sie ihr Reisigbündel und lief davon. Norbert knabberte das letzte Stück Apfelring, schloss die Augen und spürte die warmen Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht.

      ***

      Er träumte von dem Mädchen am Brunnen. Im fahlen Halblicht der Mondsichel