Thomas Hoffmann

Blaues Feuer


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Alte saßen in den niedrigen Hauseingängen und rauchten. Die Häuser neigten sich bedrohlich über der dämmrigen Gasse zusammen. In Winkeln lagen Haufen von Unrat. Ratten huschten umher. Norbert begriff nicht, wie man in solchem Dreck und solcher Enge leben konnte.

      Auf dem höchsten Punkt der Gasse zwängte sich ein Rundturm in die Häuserzeile. Er war kaum zwölf Schritt breit und die oberen Geschosse unter dem steilen Spitzdach sahen so schief aus, das Norbert geschworen hätte, er müsse sofort einstürzen. Es gab nur ein schmales Fenster in jedem Stockwerk. Ein paar Stufen führten zur Pforte hinauf. Über einem eisernen Türklopfer war ein vergilbtes Pergament an die Tür geheftet. Norbert vermutete, dass die verwaschenen Zeichen auf dem Pergament Buchstaben waren. Leika hatte einmal von Büchern erzählt, in denen Buchstaben sich zu Wörtern zusammenfügten, so dass man lesen konnte, was ein anderer in das Buch hineingeschrieben hatte. Norbert hielt es für schiere Zauberei.

      Auf Vaters Klopfen wurde die Tür geöffnet und der Vater wechselte ein paar Worte mit jemandem hinter der Tür. Im dunklen Turmeingang konnte Norbert niemanden erkennen.

      Der Vater drehte sich zu ihm um. „Warte hier mit dem Esel!“

      Er verschwand mit der Gepäcktasche im Turm. Die Pforte schloss sich hinter ihm. Norbert blickte schaudernd zum Spitzdach des Turms hinauf. Er war fest überzeugt, dass in diesem Gemäuer inmitten der lärmenden, verdreckten Stadt nur ein Irrsinniger hausen konnte.

      Der Esel stand geduldig, während Norbert von einem Bein aufs andere trat und auf den Vater wartete. Er wünschte, er hätte alles bereits hinter sich, wäre aus der Stadt hinaus und mit dem Vater unterwegs zurück zum Gornwald. Nie, nie würde er hierher zurückkehren, das schwor er sich. Als die Pforte sich öffnete, schreckte er auf. Er hörte den Vater mit jemandem reden. Vater trat aus der Pforte. Der alte Mann, der ihm nachkam, war in ein dunkles Gewand mit weiten Ärmeln gekleidet. Das hohlwangige Gesicht war von Falten durchzogen. Mit Fingern, die Norbert an Klauen erinnerten, schüttelte er Vater die Hand.

      Norbert hörte Vater sagen: „Nein, ich bringe ihn zu den Armen Brüdern. Ich will, dass er geheilt wird.“

      Der Blick des Alten lag auf Norbert. Kleine, stechende Augen musterten ihn. Norbert wäre am liebsten weggerannt. Der Alte sagte etwas zum Vater, dann schloss er die Turmpforte. Vater kam die Stufen herab und nahm Norbert die Leine aus der Hand.

      „Das Kloster liegt am Marktplatz. Heute ist es zu spät, die Mönche aufzusuchen. Wir übernachten im Gasthof „Zum frommen Pilger“. Dorthin gehe ich jedes Mal in Altenweil. Dort ist es billig und gut.“

      ***

      In der Torgasse wurden die Läden zu den Werkstätten der Handwerker geschlossen. Die Gasse leerte sich. Hinter der schwarzen Silhouette der Felsenburg über den Dächern der Stadt leuchtete trübes Abendrot.

      Der Marktplatz lag am Ende der Torgasse. Obwohl der Burgfelsen den Platz überschattete, war es hier heller und die Luft kam Norbert reiner vor als in den engen Gassen der Unterstadt. Bei den großen Häusern vor dem Burgfelsen am gegenüberliegenden Ende des Platzes konnte es sich wohl nur um die Schlösser von Grafen oder Fürsten handeln, glaubte Norbert. Aber er wollte den Vater nicht schon wieder fragen. An der Ostseite begrenzte eine hohe Backsteinmauer den Marktplatz. Ein wuchtiges Gebäude ragte hinter der Mauer auf. Zwischen abgeschrägt gemauerten Außenpfeilern blickten oben unter dem Dach winzige Fenster aus den Mauern.

      „Das Kloster der Armen Brüder,“ erläuterte Vater auf Norberts ehrfürchtigen Blick.

      Die gewaltigen Tempelmauern waren nur ein weiterer drohender Schrecken dieser Stadt, von der Norbert glaubte, dass er sie bis an sein Lebensende hassen würde wie die Pest.

      Auf dem Marktplatz wurden die Stände geleert. Händler luden ihre Waren in Schulterkiepen und Karren. In Lumpen gehüllte Frauen und dreckstarrende Kinder wanderten zwischen den Ständen herum und sammelten Gemüseabfälle auf. Die Händler fuhren sie an, manche traten auch zu, doch die Bettelleute zogen lediglich die Schultern ein und bückten sich nach dem nächsten Gemüserest. Ein Junge rannte über den Marktplatz, von rachsüchtigem Geschrei verfolgt. Er presste einen Kohlkopf gegen sein zerfetztes Hemd. Norbert blickte ihm mit klopfendem Herzen nach, bis er in einer Gasse verschwand. Ein untersetzter Mann in einer Schürze brüllte ihm hinterher. Er schwang ein Tischbein in der Faust.

      Norbert blickte sich um wie gehetzt, als würde er selbst verfolgt von den wütenden Marktleuten. Da kauerten Gestalten an den Hausmauern längs des Platzes. Aus dreckigen Lumpen streckten sie den Vorbeigehenden Armstümpfe entgegen, blinzelten einäugig aus entstellten Gesichtern, ein Junge ohne Beine saß in einem Handwagen. Vater ging an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten.

      „Erbarmen, Junge, einen Viertelkreuzer für einen Diener des Grafen, der seinem Herrn treu gedient hat.“

      Eine Krücke schwang vor Norbert. Der junge Mann, der sie hielt, hatte seinen Beinstumpf mit schmutzigen Lappen umwickelt. Sie waren dunkel von Blut. Auch das Sackleinen um die seltsam verkrümmte Hand waren blutverkrustet.

      „Nur einen Viertelkreuzer, guter Junge!“

      Fassungslos starrte Norbert in das ausgezehrte Gesicht. Er bekam keinen Ton heraus. Verzweifelt schüttelte er den Kopf, als könnte er die Erscheinung dadurch vertreiben. Dann rannte er dem Vater hinterher.

      „Vater!“

      Er konnte nicht anders, er musste sich an Vaters Jacke klammern. Tränen rannen Norbert übers Gesicht.

      „Vater, was sind das für Leute?“

      „Ich habe dir gesagt, dass du sie sehen würdest. Kriegskrüppel: Männer, die mutig aber dumm genug waren, in den Krieg zu ziehen. Jetzt sind sie klug geworden. Aber das schützt sie nicht mehr vorm Verrecken.“

      Norbert wurde schlecht.

      „Vater, lass uns weggehen. Lass uns draußen übernachten, nicht in der Stadt.“

      „Unsinn, komm jetzt. Reiß dich zusammen!“

      Der Vater schlug ihm über den Kopf – es war nur ein angedeuteter Schlag.

      „Ich habe dir geraten, zuerst klug zu werden. Du wirst jetzt wohl auf mich hören, wie?“

      Norbert nickte stumm.

      ***

      Der Gasthof „Zum frommen Pilger“ lag ein paar Quergassen abseits vom Markt an der unteren Klostermauer. Es war ein großer Gasthof. Licht schimmerte aus den Pergamentfenstern im Erdgeschoss auf die Gasse hinaus. Aus der halboffenen Tür drangen Essensgerüche und Stimmengewirr. Der Vater und Norbert brachten den Esel in den Stall. Vater gab dem Stallknecht Trinkgeld und nahm dem Esel das Gepäck ab. Durch den Hinterhof mit den Latrinen und der Waschküche gingen sie zur Gaststube hinüber. Irgendwo lachte ein Mädchen. Ihr Juchzen passte nicht in eine Pilgerherberge, wie Norbert sie sich vorstellte.

      Die Gaststube nahm das gesamte Untergeschoss des Wirtshauses ein. Viele der langen Tische waren voll besetzt. Männer mit abgearbeiteten, blassen Gesichtern hielten ihre Bierhumpen in die Höhe und prosteten den Schankmädchen zu, die mit Armen voller Humpen von den Bierfässern her kamen. Die Mädchen hatten saubere Kleider an, stellte Norbert staunend fest, manche sogar blau gefärbte Schürzen, die sie sich eng um die Taille geschnürt hatten. Eine junge Frau erzählte den Männern an den umgebenden Tischen mit in die Hüften gestemmten Armen eine Geschichte, die offenbar sehr lustig war, denn die Männer johlten und prosteten ihr zu. Über der Herdstelle wurde ein Spanferkel am Spieß gedreht. Es roch nach Bier, verschwitzten Körpern und Braten. Norbert lief das Wasser im Mund zusammen.

      Sie suchten sich einen freien Platz an einem Tisch am unteren Ende der Gaststube.

      Der Vater fragte das Mädchen, das an den Tisch kam: „Ist Rebekka nicht da?“

      Das Mädchen überlegte kurz. Dann sah sie Hans Lederer nachdenklich an. Der Vater holte den Geldbeutel aus der Jacke, legte ihn klimpernd auf den Tisch ohne ihn loszulassen und steckte ihn wieder ein. Norbert beobachtete die Szene gespannt, ohne etwas begreifen zu können.

      „Ich