Thomas Hoffmann

Blaues Feuer


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      2.

      Der Vater schritt zügig voran, ohne sich nach Norbert umzusehen. Der Trampelpfad längs der Flussaue war feucht vom Frühnebel und Norbert musste aufpassen, dass er mit seinen nackten Füssen nicht ausrutschte, während er dem Packesel hinterhereilte. Morgendunst stieg vom sumpfigen Ufer auf. Erste Sonnenstrahlen brachen durch die Baumkronen. Norberts Herz klopfte wild.

       Ich reise mit Vater auf den Markt!

      Er konnte keinen anderen Gedanken mehr fassen.

      Als sie sich der Anhöhe des Elbendorfs näherten, verdichtete sich der Nebel. Die Nebelschwaden um die Ruinen im Erlengehölz waren düsterer als sonst, fand Norbert. Der Pfad führte mitten hinein in die Nebelbank. Graue Schwaden quollen von der Anhöhe herab. Norbert blieb wie angewurzelt stehen. Oben auf der Anhöhe standen Gestalten im Dunst. Reglos schauten sie auf den Pfad herab.

      „Norbert!“ Vaters Stimme klang harsch durch den Nebel.

      Norbert stolperte den Pfad entlang.

      „Da...“ Die Stimme versagte ihm und er musste schlucken. „Da sind Elben, Vater! Sie haben uns gesehen!“

      „Glotz nicht in die Gegend! Bleib dicht hinter mir!“

      Norbert hastete dem Vater hinterher. Der Esel schnaubte. Er machte einen Versuch, am Vater vorbei voran zu traben. Seine Flanken zitterten. Norbert hielt den Blick fest auf den Pfad gesenkt. Ein heiserer Flötenton hauchte den beiden Reisenden nach.

      ***

      Sobald sie die Flussaue hinter sich gelassen hatten, verschwand der Nebel. Der überwucherte Pfad wand sich an der steilen Uferböschung entlang. Oberhalb der Böschung stand dichter Buchenwald. In den Baumkronen spielte Sonnenlicht.

      Norbert schauderte noch immer beim Gedanken an die Gestalten auf der Anhöhe.

       Sie wissen, dass ich in ihrem Dorf gewesen bin. Sie wollten mich nicht gehen lassen. Sie wollen mich holen!

      Norbert biss die Zähne zusammen. Er lief dem Vater nach, der mit dem Esel schon wieder weit voraus war. Schließlich wollte er Krieger werden! Hatte Beowulf etwa Angst gehabt vor Grendel, dem Ungeheuer? Vielleicht – aber er hatte sich dem Ungeheuer gestellt und es besiegt.

       Ich lasse mich nicht einschüchtern - von der schwarzen Dame nicht und nicht von euch!

      Gegen Mittag legte der Vater auf einem vom Sonnenlicht beschienenen Hügel oberhalb des Flussufers eine Rast ein. Norbert taten die Füße weh. Er streckte sich im warmen Gras aus. Vater öffnete das Gepäck. Er schnitt einen Streifen Wurst ab, riss ein Stück vom Brotlaib ab und gab Norbert beides zusammen mit dem Wasserschlauch. Überrascht nahm Norbert das Essen entgegen. Der Vater kam ihm unerwartet großzügig vor. In Wildenbruch hatte Norbert außer Schlägen selten etwas vom Vater bekommen. Von der warmen Filzdecke letzten Herbst abgesehen, korrigierte er sich.

      Sie aßen schweigend. Vater blickte auf den Fluss hinab.

      Kauend meinte er: „Für deine Heilung werde ich im Kloster eine Menge Geld bezahlen müssen. Ich will, dass du dich dort zusammenreißt. Komm ja nicht auf die Idee, den Mönchen Widerworte zu geben.“

      Hans Lederer betrachtete seinen Sohn mit einem Blick, der Norbert nachdenklich vorkam. Er wusste nicht, ob er zurückblicken oder lieber zu Boden schauen sollte. Der Vater kam ihm verändert vor. Norbert konnte sich nicht erinnern, je so von ihm angeschaut worden zu sein. Dazumal hatte der Vater noch nie so viele Worte an seinen Sohn gerichtet.

      „Ja.“ Norbert hoffte, dass es die richtige Antwort war.

      Noch immer schaute der Vater ihn an.

      „In Wildenbruch,“ erklärte er, als müsse er sich die Worte mühsam zusammensuchen, „leben wir an der Grenze – im Urwald, wo vorher noch nie Menschen gelebt haben. Vieles ist dort gefährlicher, wilder als an den Orten, wo Menschen schon lange wohnen. Wir müssen uns in Acht nehmen. Wir müssen die Grenze respektieren, sonst ist es um uns geschehen, verstehst du?“

      Hans Lederer suchte sichtlich nach Formulierungen. Norbert starrte seinen Vater mit offenem Mund an. Also wusste er...?

      „Die Smeta Weidner...“ Es kam Hans Lederer nur zögernd über die Lippen, „die Weidnerin hat die Grenze nicht respektiert. Sie ist hinübergegangen...“

      Norbert musste sich zusammenreißen, um nicht aufzuschreien. Das Zittern überkam ihn wieder.

      Vaters Blick war unerbittlich. „Verstehst du, Norbert?“

      Norbert blickte zu Boden.

      „Dein Gerede über Geister muss aufhören, hörst du?“ forderte Hans Lederer.

      „Ja,“ hauchte Norbert.

       Und ich hör doch nicht damit auf!

      ***

      Bis zum Abend marschierten die Reisenden flussaufwärts. Immer höher erhoben sich die bewaldeten Hügel zu den Seiten des Flusses. Norbert hatte Seitenstiche vom schnellen Gehen. Wieder und wieder rutschten seine nackten Füße auf Lehm und feuchtem Gras aus. Die Freude über die Marktreise war verflogen. Seit der Mittagsrast war eine dumpfe Empörung über ihn gekommen, seit ihm klar geworden war, dass Vater wusste, was mit Smeta geschehen war. Vielleicht, bestimmt sogar hatte Vater es vorausgesehen – und er hatte nichts gesagt! Möglicherweise wusste er auch von Großmutter – und hatte ihn trotzdem geschlagen... oder gerade deswegen! Leika hatte behauptet, die anderen verstünden nichts. Doch eine viel grausamere Wahrheit dämmerte Norbert herauf.

      Bei Sonnenuntergang erstiegen sie einen Hang und suchten sich zwischen den Wurzeln alter Buchen einen Schlafplatz. Nach dem Abendimbiss, den sie schweigend zu sich nahmen, gab Vater Norbert eine Wolldecke heraus. Norbert schmerzten sämtliche Körperpartien nach dem Tagesmarsch. Er streckte sich aus, wo er war und wollte sich in die Decke rollen.

      „Nicht dort neben dem Gepäck – komm hier herüber auf meine andere Seite!“ grollte der Vater.

      Es war der Tonfall, den Norbert gewöhnt war, nicht der jenes ernsten, nach Worten suchenden Mannes, der ihm während der Mittagsrast so fremd vorgekommen war.

      „Nicht, dass du dich nachts ans Gepäck schleichst und heimlich am Proviant zu schaffen machst!“

      Auf so blödsinnige Ideen konnten nur Erwachsene kommen.

      ***

      So müde er war, fand Norbert doch keinen Schlaf. Er rutschte in der Wolldecke auf dem unebenen Boden umher und versuchte, eine halbwegs bequeme Schlafposition zu finden. Aber immer wieder drückte ihn eine Wurzel, ein Stein. Was Vater über Smeta gesagt hatte, ging ihm im Kopf herum: sie wäre über die Grenze gegangen. Die Schreie aus der Grotte. Ihre blutig aufgerissenen Arme und Hände. Leise stöhnend wälzte Norbert sich umher. Vater schnarchte laut. Norbert tastete in der Hosentasche nach Lenes Holzpüppchen und umschloss das glatte Holz mit den Fingern. Er brachte das Figürchen dicht vor sein Gesicht.

       Du musst mir helfen, Petra. Ich darf keine Angst bekommen, weil ich doch ein Held werden will – wie Beowulf. Aber ich hab immerzu so schreckliche Angst!

      Das Püppchen lachte nicht. Es blickte auch nicht höhnisch oder verächtlich. Norbert wusste, dass Petra ihn verstand.

      Ein paar Schritt abseits döste der Esel mit hängendem Kopf im Stehen. Jetzt hob er den Kopf und gab ein kurzes Knurren von sich. Norbert blickte durch die Baumkronen hinauf in den Nachthimmel. Die Mondsichel war von einem trüben Hof umgeben. Wald und Hügel langen in fahlem Dämmerlicht. An Vaters Schulter glänzte die Silberfibel, die den Umhang zusammenschloss, hell im Mondlicht. Aber drüben, beim Gepäck!

      Mit einem Ruck fuhr Norbert hoch. Ein fahlblauer Schimmer umgab die Gepäcktaschen. Norbert kroch ein Schauder über den Rücken, wie von tastenden Fingern. Die Nackenhaare sträubten sich ihm. Das blaue Glühen schien aus den Gepäcktaschen hervorzukriechen. Der Esel