Thomas Hoffmann

Blaues Feuer


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      „Das soll eine Gruselgeschichte sein?“ beschwerte sich Roderig. „Das war ja überhaupt keine Geschichte!“

      „Es ist aber wahr,“ verteidigte sich Norbert.

      Roderig ließ es nicht gelten. Er packte Norbert und stieß ihn zur Leiter.

      „Geh, such nach einem richtigen Geist! Wenn du einen gefunden hast, kannst du wiederkommen und uns erzählen, was er gemacht hat!“

      Norbert stapfte in der Dämmerung durch den Schnee zum nächsten Heuschober und kroch ins dunkle Heu. Er fingerte den Dörrapfel aus seiner Jackentasche, den er aus der Speisekammer gestohlen hatte, biss hinein und lutschte das mürbe, süße Fleisch.

      ***

      Von Woche zu Woche wurde Großmutters Stimme leiser, wenn sie spät abends Norbert eins ihrer Märchen erzählte. Manchmal konnte er sie nur noch undeutlich im Lehnstuhl sitzen sehen. Die Prügel des Vaters wurden seltener und wenn der Vater Norbert übers Knie legte, schlug er nicht mehr hart zu. Es geschah wohl nur deshalb noch, damit Norbert nicht glauben sollte, der Vater hätte seine Meinung geändert und verzeihe ihm, dass er sich Abend für Abend wieder auf den Holzstoß bei Großmutters Stuhl setzte.

      „Räumt doch das Holz da weg, dann kann er sich nicht mehr neben Großmutters Stuhl setzen!“ forderte Lene.

      Aber das tat niemand. Auch der Vater überhörte Lenes trotzige Forderung.

      Irgendwann kam Großmutter nicht mehr und Norbert sagte zu Leika: „Ihr könnt die Decken von Großmutters Stuhl wegräumen. Großmutter ist tot.“

      Die Mutter sprach ein Dankgebet zur schwarzen Dame. Lene kreischte irgendetwas. Hans Lederer sah seinen Sohn nachdenklich an. Am nächsten Tag legten Margit und Leika Großmutters Decken zusammen und rückten den Lehnstuhl vom Feuer. Niemand verlor ein Wort darüber. Nicht einmal die sonst so vorlaute Lene.

      ***

      Die Zeit der Winterstürme kam Norbert kürzer vor und die Kälte weniger bitter als in den vorhergehenden Jahren. Er erinnerte sich, dass er in früheren Wintern nachts vor Kälte geweint hatte unter seiner verschlissenen, dünnen Decke. Vielleicht ließ ja seine neue Decke die Winternächte weniger kalt erscheinen. Im Herbst hatte Vater von seiner Marktreise Filzdecken mitgebracht und Norbert hatte auch eine bekommen, weil es sein achtes Lebensjahr war und er vollwertiges Mitglied der Hofgemeinschaft geworden war. Doch vielleicht war der Winter einfach nur milder als die vorhergehenden.

      Es taute früh. Der von der Schneeschmelze angeschwollene Bach überschwemmte die Wiesen unterhalb des Dorfs und die Flussaue verwandelte sich in einen See. Die Wildenbrucher Kinder bastelten aus Rindenstücken, Zweigen und feuchtem Laub kleine Schiffe, die sie unten an der Flussaue ins Wasser setzten. Sie schlossen Wetten ab, welches Schiffchen am längsten über Wasser bleiben würde. Norberts Schiff sank, kaum dass es vom sumpfigen Ufer losgekommen war. Er ließ den Blick das überschwemmte Flussufer entlang schweifen, dorthin, wo am Ende der Auenniederung die nebelverhangenen Ruinen der alten Elbensiedlung von Erlengehölz überwuchert standen.

      „Das ist doch seltsam, dass die Elbenruinen immerzu im Nebel liegen,“ meinte er zu Lene.

      Sie hörte nicht zu.

      „Mein Schiffchen hat gewonnen!“ kreischte sie jubelnd.

      Roderig richtete sich auf und blinzelte zu den vermodernden Hüttenresten des Elbendorfs hinüber.

      „Da ist überhaupt kein Nebel, Bert. Du siehst schon wieder Gespenster!“

      Jetzt stellte sich auch Lene an Norberts Seite. „Vater sagt, in dem Ruinendorf hausen Elbengeister, die jeden umbringen, der in die Nähe der Ruinen kommt. Sie wollen sich dafür rächen, dass die Soldaten vor hundert Jahren ihr Dorf zerstört und sie alle umgebracht haben, damit das Land besiedelt werden konnte.“

      Roderig kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe. „Irgendwann dieses Jahr gehen wir die Elbensiedlung erforschen.“

      „Die Eltern haben es verboten!“ protestierte Lene.

      Aber selbstverständlich würde sie mitkommen, sollten die Gefährten losziehen, den verrufenen Ort zu untersuchen.

      „Nach der Schneeschmelze gehen wir hin,“ entschied Roderig. Grinsend wandte er sich an Norbert. „Wenn wirklich ein Elbengeist kommt, kannst du uns ja warnen.“

      ***

      An den Abenden, wenn Norbert und Lene von den Treffen mit den Gefährten in die rauchige Wohnküche zurückkehrten, war jetzt häufig Smeta da, Lutz Torstensohns Tochter, die Frau von Lars Weidner. Leika und sie saßen abseits der anderen an der Hauswand hinter dem Webstuhl und Smeta weinte oft.

      Lene griff sich einen Stapel Holzschalen, um Margit beim Eindecken fürs Abendessen zu helfen. Sie warf Norbert einen nassen Lumpen zu.

      „Da, geh den Tisch abwischen!“

      Wenn ich dir den Lumpen ins Gesicht klatschen würde, das würde ein Gekreisch geben! dachte Norbert.

      Aber er tat es nicht. Er schnupperte nach dem Kessel, der über der Herstelle hing.

       Dicke Bohnen.

      Hoffentlich hatte Mutter Speck dazu gegeben.

      Beim Abendessen erklärte Lene ihrem jüngeren Bruder leise: „Die Smeta und der Lars sind jetzt schon zwei Jahre verheiratet und sie hat immer noch kein Kind bekommen. Deshalb weint sie immer. Leika gibt ihr Ratschläge. Leikas Mutter war doch Heilerin. Von der hat sie viele Geheimnisse erfahren.“

      Norbert hörte nur mit halbem Ohr hin. Gedankenverloren kaute er auf einem Speckstreifen. Die nebelverhangenen Elbenruinen gingen ihm nicht aus dem Kopf.

      Ein paar Tage später begegnete Norbert Smeta am Dorfrand. Er kam mit einer Kiepe voll nassem Klaubholz ins Dorf herabgestiegen. Smeta hatte sich ein Tuch umgeschlungen gegen den Nieselregen. Wald und Felsen lagen in grauem Dunst. Das Wasser rann Norbert aus den Haaren und übers Gesicht. Er wischte es nicht weg. Er schaute auf den Korb voller Dörräpfel, den Smeta unter ihrem Tuch vor dem Regen zu schützen versuchte. Ein kleines Brot lugte zwischen den schrumpligen Äpfeln hervor. Norbert lief das Wasser im Mund zusammen.

      „Gehst du zur schwarzen Dame?“ fragte er zitternd vor Kälte und Nässe.

      Smeta nickte zögernd. Sie betrachtete Norbert, als wollte sie herausfinden, was der Junge von ihrer Not wusste.

      „Du solltest nicht zu ihr gehen,“ flüsterte Norbert. „Sie hilft dir nicht. Und außerdem,“ ihm war selber nicht klar, woher er das wusste, „will sie nur Fleisch!“

      Smeta gab ihm eine Ohrfeige.

      „So was darfst du nicht sagen!“ zischte sie wütend. „Ich erzähle deinem Vater, was du lästerst. Der schlägt dich grün und blau!“

      ***

      „Morgen Nachmittag gehen wir das Elbendorf erforschen,“ sagte Roderig beim Auseinandergehen. Er trat unter dem überhängenden Felsen hervor, unter den die Kinder sich nach der Arbeit verkrochen hatten, und ging hinaus in den Regen.

      „Wir wollen lieber noch warten, bis es wärmer ist und der Regen aufgehört hat,“ fand Lene.

      Einige der Kinder blickten zu Roderig, aber als er auf Lenes Einwand nicht einging, taten auch sie, als hätten sie Lene nicht gehört. Maja stieß Norbert den Ellenbogen in die Seite und grinste. Sie deutete mit dem Kopf nach Lene. Norbert zuckte bloß mit den Achseln.

      Am Tag darauf ging Lene als letzte der Gefährten, während die kleine Gruppe sich einen Weg durch den Auenwald zu den Ruinen bahnte. Die Kinder zwängten sich durch nasses Geäst. Norberts Kleider waren klamm vom Regen. Zweige peitschten ihm ins Gesicht, wenn Maja und Roderig vor ihm das Erlengebüsch beiseiteschoben. Der Nachmittag verdämmerte in trübem Grau. Rings umher verschwand der Wald in Regenschleiern. Der feuchte Boden schmatzte bei jedem Schritt. Das Wasser war längst durch Norberts Fußlappen gedrungen.

      Dem