Thomas Hoffmann

Blaues Feuer


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noch über Nacht blieb Norbert auf dem Heuboden. Er wälzte sich im Heu umher und hielt sich die Ohren zu, aber Smetas Schreie gellten ihm doch in den Ohren. Erst früh am nächsten Morgen schlich er sich in die elterliche Wohnküche zurück. Doch die Prügel, die er erwartet hatte, blieben aus. Der Vater blickte ihn schweigend an. Lene und Mutter sahen ängstlich zwischen Norbert und dem Vater hin und her. Norbert nahm stumm den Wassereimer und beeilte sich, zur Tür zu kommen, aber Leika trat ihm in den Weg. Sie strich ihm Grashalme aus den Haaren.

      „Guten Morgen, Bert.“

      Norbert sah ihr in die Augen und wusste, dass sie verstand. Und er erkannte an ihrem Blick, dass sie mit Vater gesprochen hatte. Er hatte plötzlich einen Kloß im Hals, musste schlucken und blickte zur Seite.

      „Nun lauf schon!“

      Er stolperte hinaus, um am Bach Wasser zu holen.

      In bedrückender Stille versammelte sich die Hofgemeinschaft um den Frühstückstisch. Norbert kaute seine Gerstengrütze und blickte auf seinen Teller. Die Anspannung im Raum machte ihm Angst. Womöglich stand seine Bestrafung noch bevor.

      Der Vater brach das Schweigen: „Übermorgen gehe ich nach Altenweil auf den Markt, Einkäufe machen.“

      Es schien niemanden zu überraschen. Vater reiste sonst nur im Herbst zum Markt nach Altenweil. Norbert blickte sich verstohlen am Tisch um. Alle schienen etwas zu wissen, das ihm nicht gesagt wurde. Als der Vater ihn beim Namen rief, fuhr er zusammen. Der Ausdruck, mit dem der Vater ihn ansah, verwirrte ihn. Er kannte Vater wütend oder desinteressiert, aber nicht ernst.

      „Norbert, du kommst mit. Wir gehen zum Kloster der Armen Brüder. Die sollen über dir beten.“

      Der Bann war gebrochen. Alle redeten durcheinander. Mutter pries laut die Heilkraft der wundertätigen Ikonen der Armen Brüder. Lene holte zwei Schmalzkuchen aus ihrer Schürze hervor und schob sie Norbert hin.

      „Die hab ich für dich aufgehoben.“

      Norbert saß wie vom Donner gerührt. Er fragte sich, ob die wundertätigen Ikonen Gutes oder Böses bedeuteten. Eine Marktreise! Er war noch nie anderswo gewesen, als in Wildenbruch. Das Kloster machte ihm Angst. Aber schließlich riss er sich zusammen.

      Ich will Krieger werden. Ich hab doch keine Angst vor Mönchen!

      Er griff nach den Schmalzkuchen und stopfte sie in sich hinein.

      „Danke, Lene.“

      Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

      Nach dem Frühstück nahm Leika Norbert an der Hand und zog ihn hinters Haus. Sie blickte sich um. Niemand von der Hausgemeinschaft war zu sehen. Leika kniete sich hin, um mit Norbert auf gleicher Höhe zu sein. Sie schaute Norbert lange an. Er war überrascht, wie schön ihre Augen waren.

      „Bis vorhin hab ich nicht gewusst, was er machen würde,“ flüsterte Leika.

      Es war Norbert klar, dass sie den Vater meinte.

      „Gestern Abend hat er geschworen, dass er dich totschlägt. Die halbe Nacht hab ich mit ihm gestritten.“

      Leika blickte Norbert fest in die Augen. Ihr Blick verunsicherte ihn.

      „Vor den Mönchen brauchst du dich nicht zu fürchten. Sie werden dir eine Ikone, ein Bild hinhalten und Gebete sprechen. Das hat gar nichts zu bedeuten. Dein Vater und die Familie glauben, du hättest eine Krankheit, aber es ist keine Krankheit, Norbert. “ Sie sagte es sehr ernst. „Es ist eine Gabe. Mir kannst du es glauben.“

      Norbert schämte sich ein bisschen unter Leikas Blick.

      „Leika,“ versuchte er abzulenken, „warum darfst du Vater solche Sachen sagen? Warum prügelt er dich nicht?“

      Ein warmes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ich bin Heilerin, Norbert. Was sie oben im Reich eine weise Frau nennen.“

      Verwundert starrte er sie an. „Kannst du hexen?“

      Um Leikas Mundwinkel zuckte es. „Nicht so viel, wie ich wünschte... Aber jetzt Schluss mit dem dummen Geplapper!“

      „Leika, ich glaub, es ist doch eine Krankheit. Ich hab immer dieses Zittern. Und Nachts träum' ich ganz böse.“

      „Ich mache dir heute Abend einen Johanniskrauttee. Das wird dir helfen. Aber mit deiner Gabe hat das nichts zu tun.“

      ***

      An diesem und dem folgenden Tag unternahmen die Wildenbrucher Kinder keinen Ausflug. Sie steckten die Köpfe zusammen und redeten vom Altenweiler Markt und dem Kloster mit seinen wundertätigen Ikonen. Keins der Kinder war je aus Wildenbruch hinausgekommen. In umso schillernderen Farben malten sie sich die fremde, wunderbare Welt jenseits des Gornwalds aus. Es kam Norbert vor, als reise er in ein Märchenland, wo den Menschen die gebratenen Tauben in den Mund flogen.

      In der Nacht vor dem Aufbruch lag Norbert mit klopfendem Herzen auf seinem Lager. Mit der ersten Morgendämmerung sprang er auf. Sein Kopf war benommen von der durchwachten Nacht. Er schlich sich zur Herdstelle, wo Margit und Leika das Feuer schürten. Fröstelnd kauerte er sich ans Feuer und hoffte, dass ihm warm würde. Die Mutter kam mit einem Topf Gerstenschrot aus der Speisekammer. Sie fuhr Norbert rau durchs Haar. Dann zog sie ihn zu sich heran.

      „Ich gebe dir eine bessere Hose und eine andere Schlupfjacke aus der Truhe. Die Altenweiler brauchen nicht zu glauben, wir wären Bettler.“

      Betroffen blickte Norbert auf seine dreckstarrende Wolljacke und die zerrissenen Hosen. Alle wildenbrucher Jungs sahen so aus. Es wäre Norbert nicht in den Sinn gekommen, dass an seinen Sachen etwas auszusetzen sein könnte.

      Beim Frühstück legte die Mutter ihm ein Extrastück Speck in die Grützeschale. Der Vater betrachtete kauend seinen Sohn über den Tisch hinweg. Norbert trug die sauberen Sachen, die Mutter ihm herausgegeben hatte. Hans Lederer nickte anerkennend. Nach dem Frühstück nahm Leika Norbert beiseite. Vater und Onkel Beorn gingen vors Haus, um dem Esel den Reisepacken aufzuladen. Leika drückte Norbert ein winziges Stoffbündel in die Hand. Etwas Hartes war darin. Norbert lugte hinein und starrte mit stockendem Atem auf zwei kleine Kupfermünzen.

      „Das sind zwei Viertelkreuzer. Kauf dir ein paar Rosinenbrötchen auf dem Markt,“ flüsterte Leika. „Dein Vater braucht nichts davon zu wissen.“

      „Danke, Leika!“

      Norbert steckte sich die eingewickelten Münzen unters Hemd. Eine Gabe hatte offenbar auch unerwartet gute Seiten.

       Der schwarzen Dämonendame werd ich's noch zeigen!

      Vor dem Haus ließ Norbert Umarmungen der ganzen Hofgemeinschaft über sich ergehen. Mutter klammerte ihn fest an sich.

      „Komm gesund wieder, Bert, mein Junge!“

      Lene legte ihm eines der kleinen Holzpüppchen in die Hand, die Onkel Beorn ihr vorletzten Herbst geschnitzt hatte. Verdutzt sah Norbert sie an.

      „Das ist Petra. Sie soll auf dich aufpassen, solange wir nicht beieinander sind. Damit du nichts anstellst. Und damit du dir auch die Nase abwischst, wenn dir die Rotze rausläuft. Und wenn du zurück bist, kann sie mir alles von der Marktreise erzählen.“

      Hans Lederer sah ungeduldig zu seinem Sohn hinüber. Er hielt den Esel am Halfterstrick. In der Rechten trug er einen Wanderstecken. Mit dem wilden roten Haar und dem Vollbart von derselben Farbe um den entschlossenen Mund, der gefurchten, wettergebräunten Stirn und dem festen Blick seiner grauen Augen war Norberts Vater ein beeindruckender Mann, fand Norbert. Der Vater trug den dicken Reisefilzumhang mit der Metallfibel. Unter die Leinentücher um seine Füße hatte er Ledersohlen gebunden. Die Riemen um die Fußleinen waren bis zu den Knien um die Hosenbeine geschnürt. An Vaters Gürtel hing ein langer Dolch.

      Norbert steckte das Püppchen in die Hosentasche. Lene überrumpelte ihn mit einem Kuss, bevor er zurückzucken konnte.

      „Also Tschüss,“ flüsterte er ihr zu.

      Dann