Thomas Hoffmann

Blaues Feuer


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Decke. Er schob das Püppchen zurück in die Hosentasche. Vater schnarchte. Fröstelnd stand Norbert auf.

      Ich hab keine Angst, erklärte er Petra.

      Er biss die Zähne fest zusammen, damit sie nicht aufeinander schlugen. Norbert zitterte am ganzen Leib. Aber er schlich sich um Vater herum zu den Gepäcktaschen. Es war, als würde die Nachtluft kälter. Aus einer der Taschen glühte es fahlblau heraus.

       Wenn Vater wüsste, was er in seinem Gepäck hat!

      Norberts Wissbegier siegte über seine Angst, über die unterschwellige Ahnung drohender Gefahr. Petra passte auf ihn auf. Zumindest redete er es sich ein. Mit klammen Fingern öffnete er die Tasche.

      Kaltes blaues Licht blendete ihn. Er hatte das Gefühl, fortgerissen zu werden, weit weg von aller Wärme, allem Leben. Reglos starrte er in dieses unirdische Licht, er kannte es, er hatte es schon einmal gesehen, aber wo? Es war wie ein Sog, der ihn mit sich fortriss, in eine fremde, andere Welt, deren Schemen nebelhaft in der Ferne auftauchten. Noch konnte Norbert nichts erkennen. Und dann wusste er, woher er dieses Licht kannte: Die Elbensiedlung! Die Frau mit dem blutigen Säugling! Der Bogenschütze! Der Pfeil zielte ihm mitten ins Gesicht. Irgendwo kreischte eine Flöte.

      „Norbert!“

      Vaters Hand packte ihn an der Schulter, riss ihn zurück. Norbert blinzelte, noch halb geblendet. Plötzlich bekam er wieder Luft.

      „Ich habe dir gesagt, du sollst nicht an die Gepäcktaschen gehen! Willst du wohl verdammt nochmal auf mich hören!“

      Etwas gleißte strahlend hell an Vaters Schulter.

      „Aber da ist...“ Weiter kam Norbert nicht.

      Die Ohrfeige schlug ihn ins Gras. Der grelle Schmerz verjagte Norberts Benommenheit. Er presste die Hand gegen sein Ohr, in dem die Schmerzen tobten, biss die Zähne zusammen, um nicht zu schluchzen. Durch Tränenschleier bekam er mit, wie der Vater die Gepäcktasche zu zurrte und sie hinter die anderen Gepäckstücke warf.

      „Unter deine Decke!“ schleuderte er seinem Sohn entgegen. „Dass du dich ja nicht mehr rührst heute Nacht!“

      ***

      Norbert lag in die Decke gewickelt und starrte durch das Baumgeäst in den Nachthimmel, lauschte den Schmerzen in seinem Ohr, wie sie langsam abklangen.

       Vater weiß, was in der Tasche ist! Er weiß es, aber ich sollte es nicht mitbekommen! Warum nimmt er das mit? Was ist das?

      Seine Gedanken gingen im Kreis. Er konnte an nichts anderes mehr denken.

      In der Morgendämmerung stand der Vater auf und entfachte Feuer mit einem Feuereisen. Eine Nebelbank verbarg den Fluss. Aus den Hügeln rings umher stieg Dunst auf. Norbert schälte sich aus der Decke. Feuchte Kälte kroch durch seine Kleidung. Er machte kreisende Bewegungen mit dem Unterkiefer, um festzustellen, ob das Ohr noch schmerzte und verzog das Gesicht. Die Schmerzen waren noch da. Norbert ging Holz zusammenklauben und brachte es ans Feuer. Vater blies die Glut an. Dann hielt er Norbert einen kleinen Kessel entgegen.

      „Wir brauchen Wasser für den Tee.“

      Wortlos nahm Norbert den Kessel und stieg zum Fluss hinab. Er rang mit sich, während er den Hügel wieder hochstieg.

       Ich will ein Held werden. Ich fürchte mich nicht vor dem Vater! Und wenn er tobt, ich sag‘s doch!

      Trotzig hielt er dem Vater den Kessel hin. Hans Lederer betrachtete seinen Sohn, während er Teekräuter in den Kessel gab. Schweigend holte er Brot und Käse aus dem Gepäck und gab Norbert von beidem. Mit zusammengekniffenem Mund nahm Norbert das Frühstück entgegen. Der Vater rieb sich die Hände über dem Feuer, dann fuhr er mit den schwieligen Händen über sein Gesicht und schaute in den Frühnebel hinaus.

      „Nun frag schon!“ knurrte er.

      Norbert hatte plötzlich einen Kloß im Hals.

      Er schluckte einen Bissen hinunter, dann stieß er die Frage hervor: „Was ist in der Tasche drin?“

      Der Vater sah seinem Sohn in die Augen. „Elbenholz!“

      Norbert hustete den Bissen wieder hervor, den er hinunterschlucken wollte. Entgeistert starrte er seinen Vater an.

      „Aus der... von dem...,“ Er bekam keinen Satz heraus.

      „Aus dem Elbendorf. In den Ruinen dort liegen Mengen morscher Balken. In Altenweil gibt es einen verrückten Gelehrten, der zahlt bares Silber für die vergammelten Holzstücke.“

      „Aber wie... du...“ Norbert konnte nur Wortfetzen schreien.

      Vater tastete nach der Mantelfibel.

      Langsam seine Worte suchend erklärte er: „Woher dachtest du, dass unser Geld kommt? Das Geld, mit dem ich in Altenweil einkaufe, was wir brauchen? Was haben wir schon in Wildenbruch, womit man handeln könnte? Lutz Torstensohn stellt Wildfallen auf und bringt Felle auf den Markt, die Verena Methorst sammelt wilden Honig, aber was ist das schon? In den Augen der Menschen in der Zivilisation sind wir Bettler!“

      Norberts Kopf trieselte. Er hatte sich nie Gedanken darum gemacht, womit Vater bei seinen Marktreisen handelte. Es war ihm immer selbstverständlich vorgekommen, dass der Vater im Herbst zum Markt reiste und eine Woche später mit dem schwer beladenen Esel zurückkam. Die Elbenfrau mit dem blutigen Säugling im Arm stand ihm vor Augen. Er quetschte sein Brot in der Faust zusammen.

      „Das Dorf gehört den Elben – es ist ihr Holz.“ Er konnte es nur flüstern.

      Hans Lederer warf seinem Sohn einen mahnenden Blick zu. „Ich habe dir gesagt, dass wir im Gornwald an der Grenze leben. Wir Siedler müssen zusammenhalten. Wir ringen der Wildnis das Land ab, verstehst du? Wir sind es, die das Land urbar machen für die Menschen. Es ist gefährlich. Wo wir die Toten nicht vertreiben können, besänftigen wir sie, halten sie jenseits der Grenze. Es ist unser Wald!

      Obwohl sein Herz heftig schlug aus Furcht vor Prügel, sah Norbert den Vater trotzig an. „Es ist böse, was der Smeta passiert ist! Und es ist böse, was den Elben passiert ist! Ihr habt sie nicht besänftigt! Die Soldaten haben die Elben erschlagen, alle, sogar Kinder und Säuglinge, und du...“ Er schrie es hinaus: „Du bestiehlst sie! Es ist ihr Holz!“

      „Die Elben sind tot. Sie werden vergehen, Norbert, wie die Großmutter vergangen ist. Jetzt sind wir es, die im Gornwald leben.“

      Norbert starrte auf den Fluss hinunter, von dem die Frühnebel sich gehoben hatten.

      Sein Herz raste, aber dennoch sagte er es laut: „Ich werde ein Held, wie Beowulf. Dann räche ich all das Unrecht!“

      Hans Lederer schlug seinen Sohn nicht. Er goss eine Blechtasse mit heißem Tee voll und reichte sie ihm.

      „Du bist mutig, Norbert. Aber Beowulf war nicht bloß mutig, sondern auch klug. Deshalb kam er Grendel auf die Schliche. Ich rate dir: werde zuallererst klug. In Altenweil bekommst du die armen Teufel noch zu sehen, die zuerst mutig waren und danach erst klug wurden.“

      Norbert umschloss die heiße Blechtasse mit beiden Händen. Er hatte keine Ahnung, wovon Vater sprach. Eine dumpfe, trotzige Wut gärte in ihm.

      ***

      Bis zum Mittag wanderten sie flussaufwärts, dem überwucherten Trampelpfad durch die Hügel folgend. Norbert las einen Ast vom Boden auf, der halbwegs als Wanderstecken taugte. Sein Körper schmerzte von der ungewohnten Anstrengung und er hatte Mühe, mit dem Vater Schritt zu halten. Während dem Laufen kam er nicht dazu, sich Gedanken darüber zu machen, warum der Vater so verändert war: Er sprach mit Norbert, er erklärte ihm Dinge. Schreckliche Dinge, fand Norbert, aber es war allemal besser als Vaters wütendes Schweigen und die stummen Prügel in Wildenbruch.

      Sie rasteten in einem sonnenbeschienenen, von Buchenschösslingen und jungen Bäumen bestandenen Windbruch. Als sie von der Mittagsrast aufstanden, betrachtete Vater Norberts behelfsmäßigen Wanderstock,