Thomas Hoffmann

Blaues Feuer


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Norbert ging zu den Latrinen hinüber, die ein Stück weit ab auf einer Brache standen. In der Dunkelheit stolperte er über den gefurchten Boden. Die Mondsichel war ein blasser Fleck in den Wolken, der kein Licht spendete. Ein paar Schritt vor dem Brunnen blieb er wie angewurzelt stehen.

      Am Brunnen stand ein Mädchen und schaute zu den Hütten hinüber. Das Haar hing ihr wirr ums Gesicht. Ihr Kleid triefte vor Nässe. Sie sah vierzehn oder fünfzehn Jahre alt aus. Das Mädchen stand vollkommen reglos. Auf dem Boden um sie bildete sich eine Pfütze. Ihr Blick war erfüllt von stummer Verzweiflung.

      Norbert hielt den Atem an. Ein Gefühl wie von kalten Fingern rieselte ihm den Nacken herab. Es war ihm, als stünde er unter Zwang. Er konnte den Blick nicht von dem Mädchen wenden.

      „Kannst du sie sehen?“ Die tiefe, warme Stimme ertönte unmittelbar hinter Norbert.

      Norbert fuhr herum. Der Fremde im Kapuzenumhang stand hinter ihm. Er hatte die Kapuze abgestreift. Dichtes, dunkles Haar umgab sein Gesicht. Er deutete zum Brunnen. Norbert nickte stumm.

      „Wer ist sie?“ flüsterte er.

      „Die Köhlershofener erzählen, sie habe sich vor zwanzig Jahren in den Brunnen gestürzt, weil ein durchreisender Junker, in den sie sich verliebt hatte, weitergezogen sei, ohne sie mitzunehmen. Ich denke aber, es wird kein Junker gewesen sein, sondern irgendein Meierssohn aus Altenweil. Mag sein, dass sie sich gar nicht selbst ertränkt hat, sondern der Meierssohn hat nachgeholfen, als herauszukommen drohte, dass sie von ihm schwanger war.“

      Norbert betrachtete die verlorene Erscheinung. Er meinte, ihren Schmerz körperlich zu spüren. Vorsichtig ging er einen Schritt auf sie zu. Ihm war, als wandte sie den Kopf ein wenig in seine Richtung.

      Der Fremde hielt ihn am Arm fest. „Lass sie. Sie nimmt uns nicht wahr. Es ist gefährlich, die Toten zu stören.“

      „Manchmal nehmen sie einen doch wahr,“ flüsterte Norbert.

      Er musste an die Großmutter denken. Da war wieder die Wut, die jedes Mal gekommen war, wenn der Vater ihn von Großmutters Lehnstuhl weggezerrt hatte. Die ihn überkommen hatte, als Vater ihm vom Elbenholz erzählt hatte – und von der Smeta.

      Er starrte zu dem Mädchen hinüber. „Ich werde ein Krieger, wie Beowulf. Dann räche ich alles Böse, was in Wildenbruch geschehen ist. Und was ihr passiert ist, auch!“

      Der Abenteurer, wie der Vater ihn genannt hatte, nahm Norbert bei den Schultern. In der Dunkelheit waren seine Gesichtszüge kaum zu erkennen.

      „Da werden dir Kriegskünste nichts nützen. Lerne lieber, mit deiner Begabung umzugehen. Es ist keine Krankheit, Junge. Du bist hellsichtig. Nur wenige Menschen sind das.“

      „Das sagt Tante Leika auch,“ murmelte Norbert.

      Er wand sich, aber der große Mann packte ihn nur fester an den Schultern.

      „Statt ein Kriegsmann zu werden, solltest du zu einem Lehrmeister gehen, der dich im Umgang mit der Anderwelt schult. Hör auf meinen Rat: Geh bei Anton Dreyfuß in die Lehre, dem dein Vater wer weiß was aus dem Grenzwald anschleppt.“

      „Er bringt ihm Elbenholz.“

      „Ich dachte mir so was. Sag Dreyfuß, Lars Wagenknecht hätte dich geschickt. Dann wird er dich aufnehmen.“

      Der Fremde ließ Norbert los. Norbert betrachtete die Silhouette des Mannes in der Dunkelheit. Warum wollte der Abenteurer ihn zu dem sonderbaren Gelehrten schicken? Was hatte er davon?

      „Was machst du hier? Wer bist du?“

      Der Fremde schnaufte verächtlich. „Einer von den Wilddieben, die die Kriegsknechte suchen. Aber sag‘s ihnen nicht, sonst müssten sie versuchen, mich gefangenzunehmen und aufzuhängen.“

      Die Hand des Fremden spielte mit dem Schwertknauf. „Und die armen Teufel wollen lieber heil und in einem Stück aus Köhlershofen wegkommen.“

      „Vater sagt, du bist ein freier Abenteurer.“

      „Mag sein,“ brummte der angebliche Wilddieb.

      Er wies in Richtung Herberge. „Da kommt dein Vater vom Stall. Geh, lauf zu ihm. Er braucht nicht zu wissen, dass ich mit dir geredet habe.“

      Während der Fremde sich mit raschen Schritten entfernte, schaute Norbert zum Brunnen hinüber. Das Mädchen war nicht mehr da. Auch die Pfütze nicht, die sich unter ihr gebildet hatte.

      ***

      Auf dem Strohlager in der stockdunklen Herberge schwirrte Norbert der Kopf von den Ereignissen der letzten Tage: die atemberaubende Weite der Ebene - die Kriegsknechte mit ihren Waffen und Rüstungen - der geheimnisvolle Abenteurer... die vielen Dinge, die der Vater gesagt hatte - Norberts Wut beim Gedanken an die heftige Ohrfeige... das blaue Licht aus der Gepäcktasche, die Schatten der anderen Welt im diffusen blauen Licht, das entfernte Kreischen der Flöte... das verzweifelte Mädchen am Brunnen... dann das raubtierartige Grollen aus der Grotte und Smetas Schreie...

      Die Worte des Abenteurers klangen Norbert in den Ohren: „Such dir einen Lehrmeister, der dich im Umgang mit der Anderwelt schult...“

      Ich werde kein verrückter Gelehrter, ich werde ein Krieger wie Beowulf!

      Norbert wälze sich im muffigen Stroh herum. Auf der Seite der Soldaten hustete jemand rasselnd. Ein anderer murmelte und schmatzte im Schlaf. Norbert konnte lange nicht einschlafen.

      ***

      Der folgende Tag brachte Nieselregen. Über aufgeweichte Wege zogen die beiden Reisenden vorbei an Viehweiden, Hecken und von Bächen durchflossenen Gehölzen. Der Regen rann Norbert übers Gesicht und in den Nacken. Alle paar Schritte musste er Rotz hochziehen. Seine Nase lief, aber Petra störte das nicht. Er wusste, dass Lene das maßlos ärgern würde, wenn er es ihr erzählte. Insgeheim freute er sich schon darauf.

      Am Nachmittag sichteten sie Altenweil. Die Stadt lag auf einer Anhöhe. Hoch oben auf einem Felsplateau inmitten der Stadt erhoben sich die grauen Mauern und der wuchtige Rundturm der Markgrafenburg. Norbert blickte atemlos zu den Stadtmauern und Wehrtürmen Altenweils auf. Schiefe, steile Dächer ragten hinter den Mauern hervor.

      „Ist das die größte Stadt der Welt, Vater?“

      „Du bist ein dummer Junge. Trümmelfurt ist viel größer als Altenweil. Und Klagenfurt, die Kaiserstadt an der Lorn, erst recht.“

      Es gruselte Norbert bei der Vorstellung von Riesenstädten, in denen sich Haus an Haus drängte, deren Bewohner vielleicht nie in ihrem Leben gesehen hatten, wie Sonnenstrahlen durchs Blätterdach des Waldes rieselten. Die dunklen Mauern von Altenweil machten ihm Angst.

      ***

      Im Stadttor mussten sie angeben, wie sie hießen und woher sie kamen. Ein Reiter in Kettenhemd und Kettenhaube zahlte den Wachen das Torgeld aus der Lederbörse an seinem Gürtel. Sein Knappe wartete mit den vom Ritt schwitzenden Pferden. Norbert blickte sich mit klopfendem Herzen um. Überall grauer Stein: Das Torgewölbe bestand aus großen Feldsteinen, der Boden war gepflastert. Der düstere Tordurchgang bedrückte ihn.

      Als Vater erklärte, sie seien Siedler, durften sie passieren, ohne Torgeld zahlen zu müssen. Sie traten hinaus in die lärmende Gasse. Norbert hatte den Eindruck, die schiefen Fachwerkhäuser mit ihren über die Gasse ragenden Erkern müssten jeden Moment über ihm zusammenstürzen. Der Gestank von verrottenden Küchenabfällen und Fäkalien lag in der Luft. Männer und Frauen in ungefärbter und brauner Kleidung drängten sich um die Auslagen der Läden und versuchten, das Rattern der Handwagen auf dem Pflaster zu überschreien. Norberts erster Impuls war, auf der Stelle durchs Stadttor wieder hinauszurennen.

       Hier halte ich es keinen Tag lang aus!

      Aber der Vater führte den Esel zügig durch das Gedränge und Norbert musste hinter ihm her, damit er ihn nicht aus den Augen verlor. Drei oder vier Burschen in einem Hoftor grinsten, als er vorbei ging. Boshaft lachend zeigten sie auf seine nackten Füße. Norbert biss die