Thomas Hoffmann

Blaues Feuer


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hab gar keinen Vater,“ sagte sie traurig.

      Norbert überlegte, ob das nicht besser war. Sie aßen die Schmalzkuchen auf und wischten sich die Münder ab.

      „Ich bin Norbert. Wir sind Siedler im Gornwald.“

      Sie betrachtete ihn staunend. „Gibt‘s da wirklich Geister?“

      „Ja. Manche sind schlimm.“

      Sie dachte darüber nach.

      Dann sagte sie: „Ich bin Melanie. Jetzt muss ich weiter.“

      Sie nahm ihren Korb. Norbert schoss eine Idee in den Kopf. Schnell sprach er sie aus, damit er es sich nicht gleich wieder anders überlegte.

      „Hier – ich schenk dir den dritten Schmalzkuchen auch noch, wenn... wenn du mir einen Kuss gibst.“

      Er liebte ihre großen Augen. Sie sah aus, als überlegte sie, ob sie böse gucken sollte. Norbert hielt ihr den Schmalzkuchen hin.

      „Bitte, Melanie.“

      Er konnte es nur flüstern. Sie nahm den Schmalzkuchen.

      Ihr Kuss schmeckte nach Speichel und Norbert wurde ein bisschen übel im Magen und hinterher wusste er nicht, ob er den Kuss gemocht hatte oder nicht. Aber später musste er immer wieder an diesen Kuss denken. Das Mädchen ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, bis Jahre später Maja und er andere Sachen miteinander ausprobierten.

      ***

      Am nächsten Morgen wachte Norbert früh auf. Schales Dämmerlicht sickerte durch die Spalten der Dachluke. Norbert warf die Decken beiseite und ging hinunter in die Küche. Im Haus war es noch dunkel. Irgendwo schnarchte jemand. Die Küchenmagd gab ihm ein Stück Brot und stellte ihm den Schmalztopf hin. Sie schöpfte eine Kelle Wasser in einen Becher und stellte ihn dazu.

      Norbert wippte ungeduldig auf der Bank, während er das Schmalzbrot aß. Nach dem Frühstück würden Vater und er abreisen. Er hoffte, dass Vater heute genauso lange bei Rebekka bleiben würde, wie gestern Morgen. Den ganzen Abend lang hatte der Vater in der Gaststube neben Rebekka gesessen und mit ihr geschmust, wenn er glaubte, Norbert sähe nicht hin. Norbert schluckte den letzten Bissen hinunter und sah sich nach der Küchenmagd um. Sie hantierte am Herd. Schnell huschte er zur Tür und schlüpfte hinaus.

      Auf dem Marktplatz waren die Händler dabei, die Stände aufzubauen und Waren auszulegen. Norbert fröstelte im kalten Wind. Aber die klare Morgenluft gefiel ihm besser als der Dunst des Menschengedränges über Mittag. Ein Bettler streckte ihm eine fleckige Hand entgegen.

      „Um der Milde der Götter willen, sei gut zu einem Kranken, Junge!“

      Norbert lief schnell auf den Platz hinaus.

      Am Bäckerstand drängten sich Städterinnen, um Brot zu kaufen. Einige sahen Norbert unwillig an. Er achtete nicht darauf. Norbert kaufte zwei Rosinenbrötchen für seinen letzten Viertelkreuzer. Sie waren noch warm und dufteten verführerisch. Dann ging er nach dem Mädchen mit den Schmalzkuchen suchen, die gesagt hatte, sie heiße Melanie. Er wanderte über eine Stunde auf dem Markt umher, aber er konnte sie nicht finden. Schließlich setzte er sich allein auf die Bank bei dem noch leeren Bierausschank, wo Melanie und er gestern gesessen hatten. Enttäuscht betrachtete er die zwei Rosinenbrötchen. Sie mitzunehmen hatte keinen Sinn, sie würden ihm in der Tasche nur zerknautschen. Außerdem würde der Vater ihn prügeln, wenn er erführe, dass Norbert Süßigkeiten auf dem Markt gekauft hatte. Er wartete noch eine Viertelstunde, ob Melanie nicht doch noch kam, dann aß er die Brötchen alleine auf. Aber sie schmeckten ihm längst nicht so gut, wie gestern Melanies Schmalzkuchen.

      ***

      Im Gasthof empfing Hans Lederer seinen Sohn mit einem Wutanfall.

      „Wo hast du dich rumgetrieben? Ich habe dir verboten, in der Stadt rumzustrolchen! Hier im Gasthaus hattest du zu bleiben. Früh aufbrechen wollte ich! Wann wirst du missratener Bengel endlich einmal auf mich hören?“

      Norbert zog die Schultern hoch in Erwartung der Ohrfeige, aber die Küchenmagd ging dazwischen.

      „Lass ihn, Hans Lederer. Es war unsere Schuld. Wir hätten besser auf ihn aufpassen müssen. Jeder Junge will doch mal durch die Straßen wandern und sich die Stadt ansehen. Warum soll dein Sohn nicht auch ein bisschen Vergnügen haben?“

      Hans Lederer zog mürrisch die Hand zurück.

      „Wenn die Stadtwache ihn als Betteljungen eingefangen hätte, hätte ich teuer bezahlen müssen, um ihn auszulösen.“

      „Die Kriegsleute fangen gar keine Bettelkinder ein,“ platzte Norbert heraus. „Die sind viel klüger als die fiesen Markthändler.“

      Jetzt kassierte er die Backpfeife doch noch.

      Hans Lederer hatte bereits gefrühstückt. Er saß schlecht gelaunt dabei, während Norbert hastig seine Hafergrütze hinunterschlang. Rebekka erschien nicht. Der Vater zahlte dem Gastwirt die Zeche. Der Wirt war ein fettleibiger kleiner Mann mit misstrauisch blinzelnden Augen. Er drehte die Silbermünzen in den Händen und hielt sie ins Licht, um zu prüfen, ob sie echt waren. Norbert fragte sich, wie viel man wohl in einem „teuren“ Gasthaus bezahlen musste. Und wie es dort wohl zugehen würde.

      Als sie die Stadt verließen, war es früher Vormittag. Wind strich über die Äcker und flüsterte in den Hecken. Wo Sonnenstrahlen durch wandernde Wolkenlücken schienen, leuchtete helles Grün auf den Feldern. Norbert atmete auf. Nach dem Gedränge und den üblen Gerüchen in den Gassen der Stadt war er glücklich, wieder Erdboden unter den Füssen und weite Felder um sich zu haben. Der Vater marschierte schnell. Norbert hatte Mühe, ihm und dem beladenen Esel hinterherzukommen. In seinem Kopf überschlugen sich die Eindrücke der letzten Tage. Er hätte gerne inne gehalten, um nachdenken zu können über alles, was er erlebt hatte, aber Vater trieb den Esel an und Norbert blieb nichts übrig, als sich darauf zu konzentrieren, mit dem Vater Schritt zu halten, um nicht zurückzufallen.

      In Köhlershofen machten sie Rast. Norbert taten die Füße weh, aber der Vater wollte vor Einbruch der Nacht noch den Gornwald erreichen und hörte nicht auf Norberts Betteln, doch in der Herberge zu übernachten. Am Tisch vor der Herberge waren sie die einzigen Nachmittagsgäste. Beim Brunnen spielte eine Schar Kinder. Ihr Kreischen und Lachen drang durch den Wind herüber. Vater bestellte Bier und Essen für sich und Norbert. Es gab Kohlrübeneintopf. Das Bier machte Norbert müde und er fragte sich, wie er die Wanderung bis zum Wald durchhalten sollte. Wenn es nicht mehr ging, würde er sich eben einfach an den Wegrand setzen. Wenn der Vater ihn dann prügelte, würde er ja doch nur noch schlechter weitergehen können. Das musste der Vater ja wohl begreifen.

      Die Kinder tanzten im Reigen um den Brunnen. Sie sangen ein Lied dazu. Die Melodie klang wehmütig, fand Norbert. Wie die Erinnerung an einen lange vergessenen Traum.

      „Ein Mädchen steht am Brunnen,

       sie stehet da so still,

       wartet auf ihren Liebsten,

       der nicht kommen will.

       Geh nicht zum Brunnen am Abend,

       warte den Morgen ab.

       Das stumme Mädchen am Brunnen,

       sie zieht dich sonst hinab.

       Der Köhler fand sie im Wald bei den Wölfen,

       er nahm sie mit ins Haus.

       Sie brachten ihr bei, im Hause zu helfen,

       doch immer wieder riss sie aus.

       Sie war nicht geschickt am Weberahmen,

       zerbrach Topf und Krüge, die man ihr gab.

       Sie biss die Jungen, wenn sie kamen,