zu Sonnenwend ließ er sie allein.
Sie fand keine Tränen für ihre Liebe,
stürzte sich in den Brunnen hinein.
Geh nicht zum Brunnen am Abend,
warte den Morgen ab.
Das Wolfsmädchen am Brunnen,
sie zieht dich sonst hinab.“
Norbert stand auf und ging zum Brunnen. Er blickte in den dunklen Brunnenschacht. Aus weiter Ferne drangen Klänge an sein Ohr. Sie hallten im Brunnenloch. Zuerst glaubte Norbert, das Kreischen einer Flöte zu hören, aber es war das langgezogene, einsame Heulen einer Wölfin.
Die Kinder tanzten kreischend um Norbert herum.
„Das Wolfsmädchen am Brunnen,
sie zieht dich hinab!“
3.
Auf dem Rückweg redete der Vater kaum ein Wort mit Norbert. Sie marschierten, bis es dunkel wurde. Norbert war zu müde, um über irgendetwas nachzudenken, obwohl der Kopf ihm schwamm von den vielen Eindrücken und er seine jagenden Gedanken dringend hätte ordnen wollen. Erst, als Norbert kaum mehr die Hand vor den Augen erkennen konnte, hielt der Vater an. Längs des Hangs, auf dem sie rasteten, floss das schwarze Wasser der Gorn. Das gegenüberliegende Ufer war nicht mehr auszumachen. In der Dunkelheit konnte Norbert das Gesicht des Vaters nicht sehen, der ihm schweigend Brot und Käse reichte. Er hätte dem Vater gern vieles gefragt, doch Vaters Schweigen und seine schroffen Gesten erinnerten Norbert an Zuhause. Die Veränderung, die mit dem Vater auf dem Hinweg vorgegangen war, schien vorbei.
Norbert streckte sich aus und starrte in die Baumkronen bis es stockdunkel geworden war. Mitten in der Nacht wurde er wach. Ganz deutlich hörte er es. Keinen Steinwurf entfernt.
„Vater, da sind Wölfe!“
Er hörte den Vater sich aufsetzten. Norbert hielt den Atem an. Er lag wie erstarrt.
„Da, jetzt heult er ganz nah beim Lager!“
„Unsinn, es ist völlig still. Das hast du geträumt. Halt deinen Mund und schlaf!“
Aber Norbert hatte es nicht geträumt. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass es nicht irgendein Wolf war. Es war das Wolfsmädchen vom Brunnen. Sie rief nach ihm.
***
Die Nacht war angebrochen, als sie am folgenden Tag in Wildenbruch ankamen. Die Wildenbrucher hatten sich bereits in die Häuser zurückgezogen. Der Vater befahl Norbert, vor der Haustür zu warten, während er den Esel in den Stall brachte. Benommen von Hunger und Erschöpfung setzte Norbert sich auf die Schwelle. Seine Füße waren wund vom ununterbrochenen Marschieren. Als der Vater mit den prall gefüllten Gepäcktaschen vom Stall kam und die Haustür aufriss, stolperte Norbert hinter ihm in die Wohnküche. Es duftete nach warmer Grütze.
Die Hofgemeinschaft umringte sie. Alle starrten auf Norbert, der sich vor Müdigkeit kaum auf den Beinen halten konnte. Mutter, Lene, Margit, Beorn und Oliver schauten, als versuchten sie, einen Heiligenschein zu entdecken, der Norbert umgeben müsste. Nur Leika lächelte und zwinkerte ihm zu. Die Mutter nahm Norbert in die Arme. Sie hatte Tränen in den Augen.
„Bert, mein Junge!“
Norbert wollte nur essen und schlafen. Aber seine Angst, lange Erklärungen abgeben zu müssen, war unbegründet.
Mitten in das Durcheinander der auf Norbert einstürmenden Fragen polterte der Vater los: „Die heiligen Brüder haben über ihm gebetet. Mit der Geisterschwärmerei ist es vorbei, ein für alle Mal! Ich will kein Gerede über Geister mehr hören, hier nicht und nirgendwo. Ich schlag ihn grün und blau, wenn mir nochmal was von Geistern zu Ohren kommt!“
Das Stimmengewirr verstummte. Sigurt hielt ihren Sohn umklammert, als wollte der Vater ihn gleich schon mal vorbeugend verprügeln. Hans Lederer blickte grimmig nach Leika, doch sie hielt seinem Blick stand und schaute fest zurück. Die Haltung des Vaters lockerte sich etwas. Die Hofgemeinschaft ging zögernd zurück an den Tisch. Mutter und Lene stellten Schalen und Becher für den Vater und Norbert hin. In einem ungesehenen Moment warf Lene Norbert einen verschwörerischen Blick zu. Er wusste, was sie meinte.
„Petra war die ganze Zeit bei mir,“ flüsterte er.
Lene strahlte vor Stolz. Norbert machte sich über die heiße Grütze her.
Nachdem der Vater ein paar Bissen Rauchfleisch gekaut hatte, schlug er einen versöhnlichen Ton an.
„Ich habe Wachskerzen, Kleiderstoff, Leinen, Messer und zwei neue Äxte mitgebracht.“
Aber von dem Geld, das er im „frommen Pilger“ ausgegeben hatte, sagte er nichts. Norbert schaute die Mutter an. Die schmale, verhärmte Frau blickte ängstlich von ihren Teller auf zu ihrem Mann. Und mit einem Mal wusste Norbert, warum Vater nie von seinen Marktreisen erzählte und warum niemand in der Hofgemeinschaft ihn danach fragte, was er auf seinen Reisen erlebte.
***
In der Hofgemeinschaft wurde nicht mehr über die Marktreise gesprochen. Hans Lederers Schweigen wirkte wie ein Verbot, Norbert Fragen zu stellen. Wie selbstverständlich ging das alltägliche Leben auf dem Hof weiter, wenn auch die Mutter Norbert am nächsten Morgen eine Extraportion Speck und Bohnen in die Frühstücksschale gab und Margit und Oliver ihm neugierige Blicke zuwarfen. Lene, die neben ihm saß, betrachtete ihren Bruder verstohlen.
Nach dem Frühstück ließen Norbert und Lene die Ziegen aus dem Stall. Lene hielt Norbert in der Stalltür fest und zerrte ihn hinter den Stall.
„Was ist geschehen auf der Reise?“ flüsterte sie atemlos.
Die beiden Kinder kauerten sich unter das niedrige Strohdach.
„Vater hat eine Freundin in Altenweil,“ erklärte Norbert.
Lene sah aus, als wollte sie ihn ausschimpfen, aber sie überlegte es sich anders.
„Eine Freundin?“
„Ja, zwei Nächte ist er bei ihr gewesen und abends haben sie in der Wirtsstube gesessen und geschmust. Und dem dicken Wirt, bei dem sie Waschfrau ist, hat er die Hälfte seines ganzen Geldes gegeben und nur für die andere Hälfte Sachen auf dem Markt eingekauft.“
Lene blickte Norbert zweifelnd an.
„Ist das auch wahr?“
„Natürlich ist es wahr!“
„Und das Kloster? Gibt‘s die Zauberbilder, die Ikonen wirklich?“
„Ich musste mich vor einen Kasten knien, der auf einem Steintisch stand. Dann haben sie den Kasten aufgemacht. Da war ein Bild drin von einem Mädchen, das ein Rehkitz auf dem Schoß hatte. Aber sie mochte das Kitz nicht und guckte ganz sauer.“
„Und dann?“
„Nichts. Sie haben noch Geld genommen von Vater, damit ich das Bild sehen durfte.“
In Lenes Gesicht arbeitete es. Sie knetete ihre Finger, brachte die Frage aber nicht heraus. Norbert kannte seine Schwester gut genug, um zu erraten, worum es ging. Er holte Petra aus seiner Hosentasche.
„Hier, dein Püppchen. Und danke noch mal.“
Lene sah ihn ganz seltsam an.
„Hat sie dir geholfen?“
„Ja.“ Er sagte es sehr leise.
„Weißt du, du kannst sie behalten, wenn du willst.“
Und mit einem Blick auf ihren Bruder und das Holzpüppchen in seinen Händen fügte sie hinzu: „Ich glaube, Petra möchte bei dir sein.“
Norbert hielt das Figürchen in beiden Händen vor sein Gesicht.
Klar