Thomas Hoffmann

Blaues Feuer


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die ihm ins Gesicht zielte. Das blaue Leuchten über dem dunklen Horizont zwischen den Silhouetten der Elbenhäuser – wie das Licht einer anderen Welt.

      ***

      Am frühen Vormittag kam Smeta das Ferkel abholen. Sie hatte ihr schönes, volles Haar zu Zöpfen gebunden, die sie sich um den Kopf gewunden hatte wie für ein Fest. Unter dem wollenen Regenüberwurf trug sie ein sauberes Kleid. Es war dasjenige, welches sie zu ihrer Hochzeit getragen hatte, erinnerte sich Norbert. Mutter und Leika gaben ihr Segenswünsche mit auf den Weg. Smetas Miene wechselte zwischen Verzweiflung und Hoffnung.

      Norbert schlich ihr nach, als sie den Weg in die Felsen zur Grotte einschlug. Auf halber Höhe holte er sie ein. Neben dem Pfad toste der von der Schneeschmelze geschwollene Bach. Norbert griff nach Smetas Überwurf und zerrte. Er musste schreien, um das Tosen des Bachs zu übertönen.

      „Smeta, geh da nicht hin, sie bringt dich um!“

      Die junge Frau fuhr herum und schlug Norbert auf den Mund, so dass die Wunde an der Oberlippe wieder aufplatzte. Norbert schmeckte Blut im Mund.

      „Du bösartiger Bengel, dass die Dämonen dich holen sollen! Wirst du wohl verschwinden!“

      Norbert wischte sich das Blut von der Lippe.

      „Bitte, Smeta! Sie... die schwarze Dame ist ein Dämon.“

      Smeta wurde bleich. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Wut und Verzweiflung.

      „Na, wenn schon,“ schrie sie in das Tosen des Bachs. „Was hab ich denn schon noch vom Leben. Wenn sie mir nicht hilft, will ich ja doch sterben!“

      Sie schürzte mit der Linken ihr Kleid, umklammerte mit der Rechten den Korb mit dem Schweinchen und rannte stolpernd den Felsenpfad hinauf.

      „Smeta!“

      Norbert rannte ihr nach, aber er rutschte auf dem nassen Fels aus und schlug der Länge nach hin. Als er sich wieder aufgerafft hatte, war Smeta zwischen den Felsen verschwunden. Außer Atem stieg Norbert ihr hinterher.

      Sie stand vor der Grotte, den Korb mit dem Ferkel an sich geklammert. Norbert kam es vor, als schwankte sie. Die Schwärze im Schlund der Grotte war keine gewöhnliche Dunkelheit. Sie schien aus der Grotte herauszuquellen, Smeta entgegen. Norbert wollte schreien, aber er hatte keine Stimme mehr. Wie gelähmt stand er am Eingang des Felseinschnitts. Über verfaultes Obst, modernde Kränze, Opfergaben des vergangenen Herbsts hinweg ging Smeta in die Grotte hinein. Sie ging sehr langsam und zögernd. Norbert konnte sie in der dichten Finsternis nicht mehr sehen.

      „Smeta!“ Es war kaum mehr als ein Schluchzer.

      Da war ein Geräusch wie aus der Kehle eines Raubtiers. Ein kurzes Gurgeln, bei dem sich Norberts Nackenhaare aufrichteten. Er hörte Smeta schreien. Der Schrei schwoll an zu einem panischen Kreischen, brach abrupt ab, setzte röchelnd wieder ein. Norbert presste die bebenden Lippen zusammen. Tränen rannen ihm übers Gesicht. Er schlotterte am ganzen Körper. Zwei blutende Hände klammerten sich aus der Schwärze heraus an den Fels am Grotteneingang. Die Ärmel waren zerfetzt. Etwas ruckte an den Armen, die Hände glitten ab, verschwanden in der Dunkelheit. Die Schreie kamen jetzt stoßweise. Sie verröchelten weit hinten in der Grotte.

      ***

      Außer Atem, schlammverschmiert und durchnässt stolperte Norbert in die Wohnküche. Die Hofgemeinschaft war noch nicht zur Arbeit auseinander gegangen. Insgeheim hatten sie alle für Smeta zur Schutzgottheit Wildenbruchs gebetet.

      Lene kreischte auf. „Bert, wo bist du gewesen?“

      Schluchzend ging er in die Knie. Das Entsetzen ließ ihn nicht sprechen. Erst mehrere Atemzüge später fand er seine Stimme wieder.

      Er heulte es aus vollem Hals heraus: „Die schwarze Dame hat Smeta gefressen!“

      Mutter schrie. Norberts Onkel Beorn und Oliver sprangen auf, so dass die Bank hinter ihnen umstürzte. Hans Lederer starrte seinen Sohn an. Stumme Wut spiegelte sich in seinen Gesichtszügen.

      „Sie hat das Ferkel gefressen und Smeta gleich mit!“ heulte Norbert.

      Der Vater ging zum Brennholzstapel und griff sich einen kantigen Scheit.

      „Hans, bitte!“ flüsterte die Mutter.

      Leika streifte Norbert mit einem Blick und ging auf den Hausherrn zu. Hans Lederer sah ihr entgegen, als wollte er sie ebenfalls verprügeln.

      Leika griff ihn am Arm. „Lass ihn. Warum willst du deinen Sohn zum Krüppel schlagen? Du siehst doch, dass er schon genug Seelenqualen leidet.“

      Hans Lederer stand erstarrt. Langsam ließ er die Hand mit dem Holzscheit sinken. Mit zwei Schritten war Leika bei Norbert, zerrte ihn hoch und zog ihn hinter sich her in die Vorratskammer. Hinter der geschlossenen Tür kniete sie sich neben den zitternden, schluchzenden Jungen, fuhr ihm durchs Haar und presste ihn an ihre Brust, bis das hysterische Schluchzen verebbte.

      „Rede nicht davon, hörst du?“ flüsterte sie.

      „Aber es ist wahr, es ist wahr!“ weinte Norbert.

      „Sie verstehen es nicht. Keiner von ihnen. Ich wollte es ja selbst nicht glauben.“

      ***

      Die Wildenbrucher erzählten einander, Smeta sei ihrem Mann ausgerissen und in einen der Weiler jenseits des Gornwalds gegangen, weil sie kinderlos geblieben war. Ruth Feldnersohn behauptete, Smeta hätte ihr gegenüber einmal so etwas fallen lassen. Und Gerlinde Hüttner meinte, die Verena Methorst habe Smeta mit einem Bündel und Wanderstecken längs der Flussaue davonschleichen sehen, am Elbendorf vorbei. Verena sagte nichts dazu. Aber sie widersprach dem Gerücht auch nicht.

      Wenn bei der Abendmahlzeit das Gespräch auf Smeta kam, legte Leika Norbert die Hand auf den Arm und rückte dicht an ihn heran. Sie beteiligte sich nicht, wenn die Mitglieder der Hausgemeinschaft einander beipflichteten, Smeta sei fortgelaufen. Hin und wieder warfen Mutter oder Margit Norbert ängstliche Blicke zu. Norbert schaute auf seinen Teller und kaute sein Essen. Er war froh über Leikas Händedruck auf seinem Arm. Es half gegen das Zittern, das ihn jetzt oft überkam. Smetas Schreie hallten ihm im Ohr. Nachts träumte er von ihren blutigen Händen. Und etwas Dunklem, Unsichtbaren, das ihn Nacht für Nacht schreiend auffahren ließ.

      Lars Weidner ging fluchend und schimpfend durchs Dorf. An den Abenden saß er jetzt oft bei der Hofgemeinschaft Kurt Morgners, erzählte Kurt, wie er ihm bei der anstehenden Feldarbeit zur Hand gehen wolle und war freundlich zu Grete. Doch Kurt Morgner blieb nachdenklich.

      „Ich werde niemals Lars' Frau!“ erklärte Grete laut im ganzen Dorf.

      Oliver wurde rot, wenn er es mitbekam.

      ***

      Der Regen wurde seltener und die Sonne trocknete den Schlamm zwischen den Hütten. Die Wildenbrucher Kinder trieben die Kühe und Schafe aus den Ställen auf die Wiesen jenseits des Bachs. Sie schlossen Wetten auf die gegeneinander kämpfenden Schafböcke ab.

      Manchmal an den Abenden, wenn sie am Waldrand beieinander saßen, hauchten Maja oder Liese Norbert zu: „Erzähl von der schwarzen Dame. Was ist der Smeta passiert?“

      Aber Norbert presste bloß die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Er versuchte, das Zittern zu unterdrücken, das ihn durchfuhr.

      Das Frühlingsopfer an die schwarze Dame der Grotte wurde vorbereitet. Bereits Tage vor dem Fest schwärmten die Kinder von Schmalzkuchen und süßem Dörrobst. Norbert stahl sich davon und versteckte sich in einer Scheune. Die Gefährten sollten seine Weinkrämpfe nicht mitbekommen. Er biss sich in die Faust, um nicht zu schreien.

      Am Tag des Opferfests verkroch er sich auf Lutz Torstensohns Heuboden. Er hörte den Vater fluchen und seinen Namen rufen, aber er kam nicht heraus. Keine Macht der Welt würde ihn vor den Schlund der schwarzen Grotte bringen.

       Eines Tages werd' ich ein Krieger wie Beowulf. Dann geh ich zur Grotte zurück und erschlage die schwarze Dame. Und dann werd' ich Smetas Knochen