Thomas Hoffmann

Blaues Feuer


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verfallenen Resten der Elbenhäuser auf der Anhöhe blickten. Die Ruinen lagen in der Dämmerung. Die trübe Helle des späten Nachmittags schien sich dort früher zurückzuziehen als über der Flussaue. Graue Nebelschwaden verdichteten sich zwischen den Resten der Holzhäuser.

      „Kannst du Geister erkennen?“

      Roderigs Frage klang ernst. Norbert spähte in den wogenden Nebel. Bewegte sich da etwas im Dunst? Er sagte nichts. Vor ein paar Wochen hatte Roderig ihn aufgezogen, weil er Nebel zwischen den Ruinen gesehen hatte. Stumm schüttelte er den Kopf.

      „Also dann – gehen wir hin!“

      Die Kinder zwängten sich Roderig hinterher zwischen den Zweigen hindurch. Lene murmelte etwas, jedoch so leise, dass es niemand verstehen konnte. Oben auf der Anhöhe wurde das Gehölz lichter.

      „Wieso ist es da vorne bei den Ruinen so dunkel?“ überlegte Horst.

      Als Roderig ihn wütend ansah, presste er die Lippen aufeinander und senkte den Kopf.

      Die Reste der großen Holzhäuser ragten schwarz aus dem Boden. Nur wenige Dachsparren ließen steile, hohe Dächer erahnen. Erlen reckten ihre kahlen Äste aus den Ruinen hervor. An vielen Stellen wucherte Gebüsch. Zwischen den Häuserresten zerfaserte der Nebel. Norbert kniff die Augen zusammen. Grauer Nebel kroch in Schwaden aus den Ruinen heraus. Norbert sah es ganz deutlich.

      „Ist doch alles ganz normal hier,“ rief Maja.

      Sie blickte neugierig in eine der Ruinen hinein. Nebelzungen leckten um ihre Füße.

      Roderig stapfte durch niedriges Gebüsch. „Wenn wir Glück haben, finden wir noch irgendwas, was den Elben gehört hat.“

      „Wartet!“

      Es war Liese, die den gellenden Ruf ausgestoßen hatte. Alle fuhren herum und starrten sie an. Kalte Finger fuhren Norbert durchs Haar, tasteten seinen Rücken herab. Im Halbdunkel zwischen den Ruinen konnte er die Gefährten kaum noch ausmachen.

      „Ich hab was gespürt.“ Lieses Stimme zitterte. „Mich hat was angehaucht.“

      Von den schlanken, hohen Gestalten, die hinter ihr standen, konnte Norbert nur Umrisse erkennen.

      „Liese,“ er versuchte, ruhig zu bleiben, „komm weg da. Komm hier herüber.“

      „Es wird immer dunkler,“ keuchte Roderig.

      Liese stolperte im Rennen und fiel der Länge nach hin. Roderig fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

      „Da war ein Lufthauch vor meinem Kopf, ganz deutlich!“

      Norbert sah den langen Pfeil, der neben Roderig in einem Hausbalken zitterte.

      Horst bahnte sich zwischen widerspenstigen Zweigen einen Weg zum Hang zurück. „Hauen wir ab!“

      Lene half Liese auf. Die beiden stolperten Horst nach.

      „Komm, Bert!“

      Hinter den schwarzen Gestalten lag blaue Dämmerung. Sie waren überall zwischen den Häusern. Norbert wandte sich um, schaute nach den Gefährten. Er hörte ihre Rufe in der Ferne. Tiefes, leuchtendes Blau hinter hohen Holzhäusern. Der Himmel war schwarz. Wo waren Roderig, Lene und die anderen? Eben noch waren sie in seiner Nähe gewesen. Vor ihm stand eine hochgewachsene Frau, in braun gemusterte Decken gehüllt. Er sah die klaffende Hiebwunde, die ihr das Ohr abgetrennt und die Schulter bis zum Schlüsselbein zertrümmert hatte. Die Decken, die sie als Kleidung trug, waren blutverklebt. In den Händen hielt sie ein wimmerndes, blutiges Bündel. Norbert wurde übel.

      „Bert, wo bist du?“

      Es klang von weither. Keine zwei Schritt vor ihm stand ein Elb. Blut rann ihm aus dem blonden, langen Haar übers Gesicht. Der Pfeil auf seinem gespannten Bogen zielte Norbert mitten ins Gesicht. Verzweifelt fuhr Norbert herum. Er schloss die Augen, lauschte auf die leisen Rufe der Gefährten, tastete sich ihnen entgegen, stolperte im dichten Buschwerk. Eine Flöte klagte in schrillen Tönen in seinem Rücken. Erst, als er den Regen in seinem Haar spürte, öffnete er die Augen wieder. Diesiges Nachmittagslicht drang ihm in die Augen.

      „Den Sternen sei Dank, Bert, da bist du!“

      Lene schloss ihn in die Arme, aber sofort kreischte sie auf. „Da ist Blut in deinen Haaren!“

      Erst jetzt spürte Norbert das Pochen der Wunde.

      „Sie haben auf mich geschossen. Die Soldaten haben Frauen und Kinder geschlachtet, sogar Säuglinge. Sie haben sie einfach abgeschlachtet.“

      Die Gefährten sammelten sich um ihn. Allen stand die Angst in den Gesichtern. Regen rauschte in den Zweigen. Oben auf der Anhöhe wogte Nebel um die Elbenruinen.

      Über Roderigs Wange zog sich ein blutiger Riss, wo der Elbenpfeil ihn gesteift hatte.

      „Warum hast du uns nicht früher was gesagt?“ schleuderte er Norbert entgegen.

      Roderigs Atem ging immer noch schnell. Norbert blickte ihn verkniffen an, ohne zu antworten.

      Die Kinder kamen überein, zu behaupten, Norbert und Roderig hätten sich geprügelt, um die Verletzungen der beiden zu erklären.

      Norbert sah Roderig trotzig in die Augen. „Ich erzähl' allen, dass wir im Geisterdorf waren, wenn du sagst, du hättest mich verhauen.“

      „Also gut – unentschieden,“ fauchte Roderig.

      ***

      In der Wohnküche wusch Leika Norberts Kopfwunde mit einem Kräutersud aus, bevor sie ihm ein Leinentuch fest um den Haarschopf wickelte. Norbert presste die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerz zu wimmern. Am Esstisch saßen Smeta und Mutter dicht beieinander. Smeta schluchzte laut. Mutter versuchte, sie zu trösten. Der Vater blickte Norbert nachdenklich an.

      „Roderig ist fünf Jahre älter als du. Das war tapfer von dir.“

      Es kam selten vor, dass Vater ein Lob aussprach.

      „Womit habt ihr euch da geprügelt?“ fragte Leika. Da war ein misstrauischer Unterton in ihrer Stimme. „Das ist keine normale Platzwunde.“

      „Wir haben Tonscherben genommen,“ murmelte Norbert.

      Lene sah ängstlich von ihm zu Leika. Leikas Mutter hatte viel über Wunden gewusst.

      Leika beugte sich zu Norbert herab und sah ihm fest in die Augen.

      „Das ist eine Pfeilwunde,“ flüsterte sie so leise, dass nur Norbert und Lene es hören konnten. „Wo wart ihr?“

      Norbert schwieg verbissen.

      „Ich glaub', Lars verstößt mich,“ weinte Smeta am Tisch. „Er hat so was angedeutet. Was soll ich denn tun? Was kann ich denn nur tun?“

      Mutter hielt sie im Arm. Sie musste tief Luft holen, um sich Mut zu machen, bevor sie zu Hans Lederer sagte: „Gib ihr ein Ferkelchen für die schwarze Dame, Hans. Eins können wir entbehren.“

      Und als ihr Ehemann stirnrunzelnd zurückblickte, murmelte sie bitter, obwohl ihr die Stimme dabei zitterte: „Sie müssen nicht alle bei der Verena landen.“

      Einen Moment lang sah Hans Lederer stumm zu Boden.

      Dann knurrte er: „Morgen soll sie sich das Ferkel holen.“

      Mit schweren Schritten ging er hinaus zu den Ställen. Norbert machte sich von Leika los und ging zu Mutter und Smeta an den Tisch. Das Herz pochte ihm bis zum Hals. Mit offenem Mund starrte er Smeta an. Wieder und wieder schüttelte er den Kopf.

      „Nein, tu das nicht, Smeta!“ Die Stimme versagte ihm, er konnte es nur flüstern.

      Die heftige Maulschelle, die Mutter ihm gab, spürte er kaum. Er hörte nicht, was die anderen schimpften.

      Erst in der Nacht auf seinem Lager begannen ihm die aufgeplatzten Lippen zu brennen. Er wälzte sich in seiner Filzdecke hin und her. Der schwarze Grottenschlund stand ihm vor Augen. Der Schauder, der ihm jedes