wieder geschürten Glut. Die anderen hatten sich auf ihre Lager zurückgezogen.
Ein Schwall feuchter Kälte drang mit dem Vater in den Raum. Hans Lederers Kleider waren lehm- und dreckverschmiert. Mit einer von Erde schwarzen Hand warf er das Beil neben dem Herd auf den Boden. Langsam, als schleppte er eine schwere Last, ging er zum Lehnstuhl in der Ecke, ließ sich in den Stuhl sinken und begrub das Gesicht in den dreckigen Händen. Niemand wagte, ihn anzusprechen. Norbert, Lene und die Mutter schlichen zu ihren Lagern.
Der Regen rauschte in der Finsternis. Klamme Kälte kroch durch Norberts Decken. Mit rasendem Herzen lag er auf seinem Lager. Kaum wagte er zu atmen.
Er hat ihn umgebracht!
Er konnte und konnte den Gedanken nicht zum Schweigen bringen.
***
Hans Lederer sprach kein Wort über das, was vorgefallen war. Die Hofgemeinschaft und das gesamte Dorf schlossen sich seinem Schweigen an. Selbst wenn hier und da leise über den Mord getuschelt wurde, sprach niemand laut darüber. Lutz Thorstensohn räumte die leer stehende Hütte aus, die Lars Weidner bewohnt hatte, und nutzte sie als Schweinestall.
Mit niemandem außer Maja konnte Norbert über die quälenden Gedanken reden, die ihn verfolgten. Nicht einmal Leika traute er sich anzusprechen. Maja und er saßen auf einem Holzstapel beim Ziegenstall, wohin sie sich in der milden Luft des Frühjahrsabends vor den anderen zurückgezogen hatten. Es war fast dunkel. Maja hatte Schmalzkuchen gebacken.
„Es ist ganz einfach,“ meinte sie. „Mutter hat es mir gezeigt.“
Norbert schluckte den fettigen Teig, aber er empfand keine Freude daran.
„Alle tun so, als hätte es den Lars Weidner nie gegeben!“
Maja sah ihn erschreckt an.
„Wir wollen nicht darüber sprechen,“ flüsterte sie.
„Ich muss aber darüber reden. Mit wem kann ich das denn, außer mit dir?“
Maja blickte zu Boden. Sie knetete ihre Hände im Schoß.
Es drängte Norbert, sich von der Seele zu reden, was ihn verfolgte.
„Von der Smeta haben sie behauptet, sie hätte die Siedlung verlassen und sich davongeschlichen. Den Lars Weidner hätten sie auch ziehen lassen können.“
„Aus dem Dorf weggehen ist dasselbe, wie tot sein,“ sagte Maja leise. „Es macht keinen Unterschied.“
„Das heißt, du findest das richtig, dass... dass mein Vater ihn ermordet hat?“
Maja schniefte.
Erst nach einer Weile antwortete sie sehr leise: „Er war kein guter Mensch.“
Norbert spürte einen heftigen Stich in der Brust. Fassungslos blickte er Maja an.
„Es war Mord! Genau wie es Mord war, die Smeta zur schwarzen Dame gehen zu lassen. Und wie das, was sie den Elben angetan haben.“
Maja schüttelte verzweifelt den Kopf. Sie hatte Tränen in den Augen. Aber Norbert wurde nur noch wütender.
„Das Dorf ist auf Mord gebaut! Die Gesetze, von denen Vater redet, sind Mordgesetze! Ich will hier nicht mehr bleiben. Lass uns weggehen, Maja. Lass uns nach Altenweil gehen. Ich weiß dort von einem Gelehrten...“
Maja unterbrach ihn schreiend.
„So darfst du nicht reden, Bert! Das stimmt ja gar nicht. Mein Vater ist kein Mörder!“
Beim Gedanken an Björn Feldnersohn verstummte Norbert. Majas Vater hatte ihn wie einen Sohn aufgenommen. Hilflos fuhr Norbert sich durchs Haar. Er konnte nicht verhindern, dass ihm ebenfalls Tränen in die Augen schossen.
Maja nahm seine Hände: „Bert, es sind so schlimme Sachen passiert. Aber wenn wir beide erwachsen sind, machen wir das Unheil wieder gut. Das hast du immer gesagt. Du willst Wildenbruch beschützen, hast du gesagt.“
Norbert zog durch die Nase hoch.
„Glaubst du, dass wir das können, Maja?“
Sie sah ihm in die Augen.
„Ja! Wenn wir beide zusammen sind, können wir es. Ich glaube es ganz bestimmt. Bitte, Bert, rede nie wieder vom Weggehen. Das Dorf – die Familie – sind mein Leben. Ich könnte nie woanders leben. Genauso gut könnte ich tot sein.“
Norbert schlang die Arme um das Mädchen und die beiden umarmten sich verzweifelt.
„Es wird gut,“ flüsterte Maja. „Wir schaffen es - du wirst es schaffen, Bert, das Unheil gutzumachen. Ich helfe dir.“
Norbert hielt Maja fest in den Armen. Nichts wünschte er sehnlicher, als dass sie recht hätte.
***
Unmittelbar im Anschluss an das Frühlingsopfer feierten die Wilderbrucher die Heirat von Oliver, dem Sohn von Norberts Onkel Beorn, mit Grete Morgner. Die beiden zogen in die neuerrichtete Blockhütte beim Hof Kurt Morgners. Ulf Methorst, der sich auf das Zimmererhandwerk verstand, hatte das Bett, eine Truhe, Tisch und Bank als erste Einrichtung gebaut. Alle Familien steuerten Hausrat als Hochzeitsgeschenk bei.
„So muss es sein,“ erklärte Hans Lederer seinem Sohn. „Wir Siedler halten zusammen, unterstützen uns gegenseitig. Niemand ist ausgenommen.“
Drei Tage nach der Hochzeit kam Oliver verstört an den väterlichen Hof.
„Die Grete sagt, sie kann in unserem Blockhaus nicht leben. Sie ist bei der Mutter und will nicht mehr zurückkommen in die Hütte. Sie meint immerzu, jemand schleiche nachts ums Haus. Sobald es dämmert, traut sie sich nicht mehr vor die Tür. Sie zittert immer so. Dabei war sie vor der Hochzeit doch so mutig und selbstbewusst, deshalb hab ich sie ja genommen. Gestern ist sie mitten in der Nacht aufgewacht und hat geschrien, der Lars Weidner stehe am Bett und wolle sie töten. Ich hab einen Kienspan am Herd entzündet, aber das Licht ging gleich wieder aus. Da war so ein eisiger Luftzug, wie ein Todeshauch.“
Hans Lederer hörte seinem Neffen mit zusammengekniffenen Lippen zu. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen.
„Bleib heute Nacht hier,“ knurrte er. „Wenn es Abend wird, gehe ich zu Kurt Morgner.“
Leika wechselte einen Blick mit Norberts Vater.
„Ich gehe hinüber zu den Morgners und spreche mit der Grete.“
Als der Vater billigend nickte, sagte sie zu Oliver: „Mach dir keine Sorgen. Es wird gut.“
Hoffnungsvoll blickte Oliver von Leika zum Vater.
Am Abend nahm Hans Lederer seinen Dolch aus der Truhe und verließ den Hof. Zwei Stunden später kam er wieder herein. Er hielt sich die rechte Hand, als hätte er Schmerzen. Die Hand war rot und geschwollen. Der Dolch steckte in seinem Gürtel. Mit aufgerissenen Augen betrachtete Norbert die Klinge. Sie glühte blau.
Der Vater ließ sich schwer auf die Bank fallen. Er nickte Oliver zu.
„Grete ist wieder in eurer Hütte. Leika ist bei ihr. Geh zu ihr. Es ist vorbei. Der Lars Weidner behelligt euch nie wieder.“
Mit verhaltener Wut blickte er auf seine Frau, die ein Dankgebet an die schwarze Dame murmelte.
Norbert konnte lange nicht einschlafen. Er wurde den Gedanken nicht los, in dieser Nacht hätte der Vater den Lars Weidner zum zweiten Mal ermordet. Kurz vor Morgengrauen, als die Nacht fadenscheinig wurde, hörte er weit weg einen Wolf heulen.
***
Der Regen hielt bis weit in den Mai an und ein großer Teil der Saat verfaulte. Dazu brach unter den Schafen eine Krankheit aus, die viele Tiere dahinraffte. Die Wildenbrucher hielten Prozessionen zur Grotte der schwarzen Dame ab und beteten um Segen.
„Die schwarze Dame will die Wiesenblumen, Möhren und Erbsenschoten nicht, die sie ihr bringen,“ konnte Norbert sich nicht verkneifen, Maja zu erklären.