Christian Jesch

Renaissance 2.0


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ihrem Kopf überrascht wurde. Er schlug ein, wie ein Blitz, breitete sich aus und verlor sich dann wieder so schnell, wie er gekommen war. Was er hinterließ, war eine längere Bildsequenz mit verschwommenem Ton. Dann war alles wieder verschwunden. Tandra schaute sich besorgt um, ob jemand etwas bemerkt hatte. Nach einer kurzen Weile hakte sie das Geschehen jedoch einfach ab und erklärte es sich mit dem Wind, der an diesem Tag die mit CO2 angefüllten Rauchschwaden von den Kaminen der Kohlekraftwerke durch die Straßen trieb, was eventuell zu Kopfschmerzen führte, die dann wiederum für die Vision sorgten.

      Kapitel 19

      Am späten Abend hatten sich Ysana, Neyton und ihre Gefolgsleute einen geeigneten Ort gesucht, an dem sie übernachten wollten. Gemeinsam und zumeist schweigend verzehrten sie einen Teil der Vorräte, um dann zu beschließen, am nächsten Morgen in einer der umliegenden Ortschaften für Nachschub zu sorgen. Wie sie das genau anstellen sollten, war ihnen noch unklar. Die finanziellen Mittel waren noch geringer, als die übrig gebliebenen Lebensmittel. Ysana bestand darauf, dass die Metamenschen, wenn möglich, nicht ihre Fähigkeiten einsetzen sollten. Und wenn doch, dann nur sehr unauffällig. Ihren Verfolgern einen Hinweis zu geben, wo sich befanden, konnte sich die Gruppe nicht leisten.

      "In meiner Gruppe ist ein Teleporter zu finden, der einige, kleine Mengen unbemerkt aus einem Laden schaffen könnte", meinte Neyton.

      "Sofern keine Überwachungskameras ihn dabei beobachten", gab Ysana zu bedenken. "Dann würde er auffallen."

      "Zusammen mit Morell im Tarnmodus würde das sogar den Kameras nicht auffallen", wendete Neyton ein.

      "Außer dem leergeräumten Regal, das die beiden hinterlassen. Das würde schon Aufmerksamkeit genug erregen. Denken Sie nicht?"

      "Was schlagen Sie dann vor?", wollte der Mann etwas genervt von der Anführerin wissen.

      "Ich sagte doch schon. Von der Idee her gut. Nur sollen die beiden auf Überwachung achten. Sie brauchen doch nicht gleich so verächtlich zu schnaufen."

      "Ich bin etwas nervös wegen der Lagebesprechung, die wir noch machen wollen. Ich bin mir wirklich nicht sicher, wie meine Leute auf ihre Anforderungen reagieren werden."

      "Das kann ich Ihnen sagen. Aber darauf können wir keine Rücksicht nehmen. Entweder kommen sie mit und teilen unsere Vorgehensweise oder sie kehren um, wobei ich mir nicht sicher bin, ob ich das zulassen kann."

      "Wie meinen Sie das, Ysana?", fragte Neyton schockiert, der die unterschwellige Nachricht wohlverstanden hatte.

      "Wir können es uns nicht leisten, dass die Pläne zu früh bekannt werden. Das sich ein Hover der ProTeq so knapp an uns vorbei in genau die Richtung bewegt, in der wir unterwegs sind, zeigt mir, dass jemand eine Ahnung hat, was wir planen. Und das ist schlimm genug."

      "Ich will aber nicht, dass sie diejenigen umbringen, die uns nicht folgen wollen."

      "Dann sollten Sie hoffen, dass ein jeder Ihrer Leute mit meinen Plänen einverstanden ist. Kommen Sie. Es geht los." Ysana stand auf ohne auch nur eine Sekunde auf eine Reaktion von Neyton zu warten. Es gab auch nichts mehr zu sagen. Sie ging zum Lagerfeuer und deutete an, dass sich alle vor ihnen versammeln sollten. Die Waldmenschen zögerten und bewegten sich erst, als ihr Führer ihnen zunickte. Dabei war sein Gesicht sehr verschlossen. Etwas stimmte nicht mit ihm, erkannte seine Gemeinde.

      "Bevor wir morgen unseren Weg fortsetzen, müssen wir ein paar grundlegende Dinge klären", eröffnete Ysana die Runde. "Liga, zu mir", befahl sie, woraufhin die zehn Überlebenden von Nuhåven hinter ihre Anführerin traten und sich aufbauten. Sie wussten bereits, was jetzt kommen würde. Einige von ihnen hatten sich sogar schon gewundert, dass die Einweisung der Neuen nicht schon früher stattgefunden hatte.

      "Ich werde euch jetzt erklären, was es mit der Liga des Untergangs auf sich hat. Neyton hat es bereits verstanden und ist willig, mir unter allen Umständen zu folgen und meine Anordnungen auszuführen. Was euch, den Rest, angeht, so werdet ihr in einigen Minuten eure Entscheidung treffen müssen. Diese Entscheidung, die ihr treffen werdet, ist eine Entscheidung über Leben oder Tod." Ysana hatte diese Formulierung gewählt, weil sie sowohl doppeldeutig als auch schwerwiegend war. Den Waldkindern sollte deutlich werden, dass dies die Realität ist und kein Kinderspielplatz.

      "Wir Metamenschen sind von der Regierung zur Jagd freigegeben worden. Diejenigen, welche sie fangen konnten, wurden in sogenannten staatlichen Besserungsanstalten untergebracht und gequält. Man hat nichts unversucht gelassen, sie ihrer Fähigkeiten zu berauben. Viele von ihnen haben diese Experimente mit dem Leben bezahlt, wodurch unzählige Mutter ihre Kinder für immer verloren haben. Die Regierung hat sich um diese Schäden nie gekümmert. Diese Menschen, wir, sind lediglich eine Gefahr für die Macht einer Gruppe Primitiver, die andere Primitive unterdrücken, um es sich selbst gutgehen zu lassen. Dabei wären wir schon damit einverstanden gewesen, wenn man uns einfach nur akzeptiert und wie die Asylaken integriert hätte. Warum sind diese Menschen mehr wert, als wir? Weil sie die Regierung an der Macht halten. Auch, wenn die Wahlen nur eine Vars sind, die Asylaken stimmen für Mår-quell und bestätigen so ihre Führungskraft. Wir sind nur deswegen zur Bedrohung geworden, weil man uns missbraucht hat, weil man uns ausrotten will, weil man uns als das erkannt hat, was wir sind. Die Spitze der Evolution. Wir sind intelligenter. Wir sind humaner. Wir sind fähiger." Ysana machte eine Pause und ließ die Worte auf die jungen Metamenschen wirken, die schweigend und scheinbar verängstigt vor ihr saßen. Sie musste noch tiefer gehen, um in ihnen die Revolution ohne Rücksicht zu entfachen.

      "Einige Metamenschen wurden von einer Gruppe mit dem Namen Sturmredner aus den staatlichen Anstalten befreit. Doch zu welchem Zweck? Damit sie in ein anderes Gefängnis kamen. Eins, in dem sie zwar nicht mehr gefoltert wurden, aus dem sie aber auch nicht heraustreten konnten. Ein goldener Käfig, in dem sie verweichlichten und in dem man ihnen beibrachte, dass dies das für sie vorbestimmte Leben sei. Ich konnte die Gruppe in Nuhåven überzeugen, dass dem nicht so ist. Und dies wird mir mit Sicherheit auch weiterhin gelingen. Weil diese Jugendlichen immer noch Gefangene sind. Umgeben von Mauern, die sie von dem trennen, was ihnen zusteht. Freiheit. Ihr habt vielleicht nicht bemerkt, dass ihr auch Gefangene ward. Abgeschlossen im Wald. Immer Schutz suchend unter dem Dach der Bäume. Sich verstecken vor den Häschern der Mår-quell. Jetzt seit ihr aus diesem Versteck heraus und in der Realität angekommen. Die Frage ist nur, seit ihr auch bereit, diese neugewonnene Freiheit zu verteidigen. Und, wenn ja, bis zu welchem Preis?" Erneut machte Ysana eine Pause. Dabei schaute sie direkt in jedes einzelne Gesicht der Gruppe. In einigen sah sie den Beginn der Erkenntnis. Andere waren noch im Zweifel. Einige wenige hatten eindeutig Angst. Und dann gab es da die zwei oder drei Jugendliche, in deren Augen bereits das Feuer brannte. Ysana hoffte, dass diese ihr bei der Überzeugung der anderen helfen würden. Denn es war immer besser die Dinge von Gleichgestellten zu hören, als von einem Fremden.

      "Der Preis wird hoch sein. Nicht nur, dass er euer Leben kosten kann. Nein. Er wird vielleicht auch eure Moral kosten. Denn eins kann ich euch versichern. Die Jagd wird immer weiter gehen und wir werden für unsere Freiheit kämpfen. Und das bedeutet bisweilen auch, anderen das Leben zu nehmen. Ich frage daher, gefällt euch die Freiheit sich überall bewegen zu können, wo ihr es wollt?"

      "Wir verstecken uns doch immer noch", rief einer aus der Gruppe laut.

      "Wir verstecken uns nur so weit, wie wir es müssen. Noch sind wir dabei, weitere Gefangene zu befreien. Und es ist nun mal von Bedeutung, dass man sich bei einer Befreiungsaktion bedeckt hält. In der Anlage, zu der wir unterwegs sind, befinden sich an die einhundertfünfzig Metamenschen, die sich uns anschließen werden. Es gibt noch weitere Anlagen, die wir aufsuchen. Danach wenden wir uns den goldenen Käfigen der Sturmredner zu. Wir werden tausende sein, bevor wir auf die Hauptstadt marschieren. Dann wird es nichts und niemanden geben, der uns noch vermag aufzuhalten. Dann haben wir die Freiheit, die uns zusteht. Und die Primitiven werden erleben, was sie uns angetan haben. Wir werden den letzten notwendigen und absoluten Krieg entfachen." Ysana beendete ihre Rede mit einem triumphierenden Blick, den sie über die Gruppe gleiten ließ. Es dauerte einige Sekunden, bevor die eine Regung zeigte, doch dann war diese überwältigend. Mit lautem Jubelgeschrei sprangen die Jugendlichen auf und applaudierten. Auf Ysanas Gesicht entstand ein zufriedenes Lächeln. In ihrem Hinterkopf wusste