Christian Jesch

Renaissance 2.0


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anhielt, war jetzt ihre nächste Aufgabe. Sie musste die Gruppe zusammenhalten und dafür sorgen, dass sich die Jugendlichen gegenseitig immer wieder bekräftigten. Nur so konnten sie den Zustand erreichen, in dem Ysana sie brauchte. Sie mussten zum Töten bereit sein.

      Neyton war zwar schon vorher von Ysanas Anliegen überzeugt gewesen, doch nach dieser Rede, war er sich erst recht sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Die Anführerin der Liga hatte eine sehr gute Intention, wie man den Menschen etwas vor Augen führt, das sie dann im Anschluss auch unbedingt haben wollen. Und welcher Mensch wollte nicht eine Freiheit, das zu tun, was er sich wünschte? Ohne Einschränkungen.

      In den frühen Morgenstunden wurde die Gruppe von einem lauten Grollen geweckt. Sofort dachten die meisten an einen Hover, der sich auf sie zubewegte oder gar schon über ihnen schwebte. Doch dem war nicht so. Vielmehr sahen sie sich einer Naturkatastrophe gegenüber, gegen die ein Angriff der ProTeq mit ihren fliegenden Festungen ein Kinderspiel gewesen wäre. Gleich fünf Tornados bewegten sich über das Land und rissen alles in Stücke, was ihnen im Weg stand. Eine Folge der über Jahrzehnte unbeachteten Umweltverschmutzung, die das Klima beinahe umgekehrt hatte. Die Front, welche auf die Liga zusteuert, war schätzungsweise einen Kilometer breit. Ihr zu entkommen, war so gut, wie unmöglich. Ysana versuchte mit ihrer Fähigkeit die molekulare Struktur zu ertasten, um möglicherweise die Richtung zu ändern oder einen der Wirbel aufzulösen. Doch dieses Mal musste sie feststellen, dass ihre übermetamenschlichen Fähigkeiten nicht genug waren. Auch, wenn ihre Kraft ausgereicht hatte, eine Energiekuppel zu bilden, die ein herabfallendes Hochhaus auffangen konnte, war sie sich nicht sicher, ob sie dieses Mal eine Kuppel bilden konnte, die alle schützte und die verhinderte, von einem der Wirbel fortgerissen zu werden.

      "Wie viel Leute kann den Teleporter auf einmal transportieren?", schrie sie gegen den Lärm an.

      "Ich weiß es nicht", musste Neyton zugeben.

      "Wo ist er denn?", rief Ysana dem Mann zu. Der blickte sich in der Gruppe um und deutete dann auf eine junge, zierliche Frau, die im selben Moment verschwand. Offensichtlich hatte sie die Situation sofort richtig eingeschätzt und gehandelt. Immer wieder konnte die oberste Ligistin sehen, wie das Mädchen auftauchte und nachdem sich drei bis vier Personen an sie geklammert hatten, wieder verschwand. Sie bezweifelte jedoch, dass die junge Frau es schaffen würde, alle zu retten, bevor einer der Wirbelstürme hier eintraf. Daher veranlasste die Anführerin, dass sich die Übrigen dicht bei ihr versammelten, sodass in dem Moment, wo der Sturm auf die Verbliebenen traf, sie eine Energiekugel um alle projizieren konnte, damit keiner einen Schaden erlitt, wenn sie nach oben katapultiert und irgendwann wieder nach unten fallen würden.

      "Und, mein Bruder? Wie steht es um unsere Zukunft? Gibt es etwas, das ich wissen sollte?", fragte der Gottkaiser den in Blau gekleideten Mann.

      "Die Hokoash verläuft weiterhin ohne Zwischenfälle. Auch das Ende ist nach wie vor gleich geblieben. Sie können also davon ausgehen, dass sie Ihr Ziel erreichen werden, wie geplant."

      "Das beruhigt mich. Ich habe nämlich von einer Gruppe Mutanten erfahren, die im Land nach der Macht streben. Haben Sie etwas davon in der Zukunft gesehen?"

      "Nein. Diese Mutanten, von denen sie reden, müssen wohl auf einer anderen Achse unterwegs sein. Aber ich werde nach ihnen suchen lassen. Falls sie doch noch Ihre Wege kreuzen sollten."

      Kapitel 20

      Als Shilané am Abend mit Thevog und Tandra zu ihrem Onkel nach Hause kam, wartete dort bereits Jikav auf sie. Kommandant Vecal hatte ihm noch eine weitere Einheit genannt, die scheinbar mit Pumar zusammenarbeitete. Er war dort hingegangen, um eventuelle zusätzliche Informationen zu erhalten, die einen Einblick in Pumars Mission geben könnten. Leider ohne Erfolg. Die Renegaten hatte lediglich Material bereitgestellt, das irgendwann unbemerkt abgeholt wurde. So wie man es bei einer Geheimmission eines Spezialagenten erwarten konnte. Auf die Platine angesprochen, berichtete Shilané und Thevog abwechselnd, was sie herausgefunden hatte. Tandra war dabei sehr erstaunt, wie gut sich ihre Shéré in Elektronik auskannte.

      "Das überrascht mich jetzt aber", entfuhr es Tandra.

      "Ja, ja", antwortete ihr Onkel. "Sie war schon immer eine kleine Leseratte. Ich habe damals nur gedacht, lass sie ruhig. Aber, dass sie die Inhalte der Bücher auch versteht, davon war ich nie wirklich überzeugt, bis sie eines Tages den Monitor hier im Wohnzimmer reparierte. Das hat mich beeindruckt und eines Besseren belehrt. Zu schade, dass sie, solange sie nicht verheiratet ist, nicht an die Universität gehen kann."

      "Dürfen nur verheiratete Frauen in die Fakultäten?", fragte Jikav verwirrt.

      "Nicht ganz. Aber nur verheiratete erhalten alle Bürgerrechte und dürfen die Quolcosen verlassen."

      "Aber du hältst dich doch auch nicht ständig dort auf", warf Tandra ein.

      "Das hat sie meinem Bruder zu verdanken. Aber lassen Sie uns das Thema wechseln. Ich rede nicht gerne darüber."

      "Wir haben heute mit einigen Ankillas über den Aufstieg Jachweys gesprochen. Wie es aussieht, hatte er dabei Hilfe, denn er wurde nicht gewählt, sondern stand plötzlich an der Spitze", berichtete Thevog.

      "Ja, das stimmt", bestätigte der Onkel das Gesagt und verzog dabei die Miene, als wäre er mit diesem Themenwechsel nicht richtig einverstanden. "Man hat immer gemunkelt, er wäre von Außerhalb protegiert worden. Keiner konnte jedoch sagen, wer dahinter steckte. Einige behaupten, er wäre eine Strohpuppe der Proteqtoren. Andere vermuten eine gegnerische Partei von Mår-quell dahinter. Als ob die etwas ausmachen könnten."

      "Und was glauben Sie?", erkundigte sich Tandra, während sie in das Nachbarzimmer ging und die Schachtel mit den Pillen holte, die man ihnen beim Betreten der Stadt gegeben hatte.

      "Ich kann dazu nichts sagen. Da gibt es einfach zu viele Gerüchte. Mir hat sogar mal jemand erzählt, der Gottkaiser wäre von irgendeinem Templar an die Macht gebracht worden. Ein Orden", schnaufte der Siebzigjährige verächtlich. "Als ob es noch so etwas wie Religion geben würde oder wie das damals hieß."

      "Ein Orden muss nicht zwingend etwas mit Gottesanbetung zu tun haben. In Nuhåven haben wir etwas sehr Ähnliches kennengelernt. Erinnerst du dich noch an die Sturmredner?", fragte sie Jikav, bevor ihr Blick dann unvermittelt von einer Sekunde zur anderen ins Leere glitt.

      "Was ist?", fragten Jikav und Shilané gleichzeitig. Eine Träne lief Tandra die Wange herunter und blieb am Kiefer hängen. Dann folgte eine zweite und eine dritte. "Ist alles in Ordnung mit dir?", sprach Jikav sie erneut an. Tandra nickte, wobei sie ihre Lippen fest zusammenkniff und mühsam schluckte.

      "Ich dachte nur gerade eben an Kaziir", brachte sie schließlich mit gebrochener Stimme hervor. Shilané schaute Jikav fragend an. Der schüttelte nur leicht den Kopf, um dann kurz zu nicken. Die junge Ankilla verstand. Jetzt war nicht die richtige Zeit, sie darüber aufzuklären.

      "Willst du vielleicht allein sein?", fragte Jikav fürsorglich. Tandra verneinte und griff nach der Schachtel mit den Tabletten. Sie löste eine aus und steckte sie in den Mund. Sofort begann sie, wie es ihre Gewohnheit war, darauf herumzukauen und schrie kurz auf. Nach kurzer Zeit beförderte die Renegatin etwas mit ihrer Zunge an die Lippen, was sie dann mit den Fingern aufnahm. Verwundert betrachtete sie die kleine Metallkugel.

      "Was ist das?", fragte der Onkel, der mit zusammengekniffenen Augen das Objekt über die Distanz betrachtete.

      "War das in deiner Tablette?", wollte Jikav zur Bestätigung wissen. Tandra nickte heftig. Thevog streckte die Hand nach der Metallkugel aus und betrachtete sie interessiert. Sein Verstand arbeitete bereits auf Hochtouren und ging sämtlich Möglichkeiten durch, die eine Erklärung bieten könnten. War es ein zufälliges Objekt oder wurde es in der Tablette platziert? War es Teil der Medikation und sorgte für die korrekte Dosierung über den Tag? Oder handelte es sich gar um eine Art Minibombe, die unter bestimmten Voraussetzungen ausgelöst werden konnte? Möglicherweise war es jedoch… Thevog kam ein unbehaglicher Gedanke. Schließlich fragte er nach einem Gerät, mit dem man Frequenzen messen konnte. Natürlich hatte der Onkel nichts dergleichen im Haus.

      "Gibt es hier eventuelle ein tragbares