Christian Jesch

Renaissance 2.0


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so ein richtig altes Stück?", freute sich der Siebzigjährige. "Ja. Das habe ich. Stammt noch von meiner Großmutter. Es ist ziemlich alt, aber ich habe es immer in Erinnerung an sie behalten. Ich hole es." Als wäre er plötzlich wieder Siebzehn, sprang er auf und verschwand im Flur. Nach nicht einmal einer Minute war er zurück und hielt ein kleines Plastikgerät in der Hand, das er Shilané gab, die ihre Hand noch vor dem Jungen danach ausgestreckt hatte. Sie schaltete es ein und hielt es nah an das Objekt. Dann ging sie mit der Wählscheibe alle Frequenzen des Radios durch. Bei einer von ihnen entstand ein hoher Pfeifton.

      "Das scheint mir ein Sender zu sein", fasste Thevog die Entdeckung zusammen. Alle hielten den Atem an.

      "Wisst ihr, was das bedeutet?", fragte Shilané rhetorisch in den Raum. "Jeder hier in Deusakem wird überwacht. Kein Wunder, dass die wenigen Verbrechen innerhalb von Stunden aufgeklärt sind."

      "Wir sollten morgen sofort zu einem Arzt gehen und nachsehen lassen, ob wir verwanzt sind oder ob wir, wie du Glück hatten."

      "Kennen Sie einen Arzt, dem Sie vertrauen? Er muss unter Umständen eine kleine Operation durchführen und die Sender entfernen", sagte Tandra zu dem alten Mann.

      "Ich bin Arzt", antwortete der stolz. "Vielleicht kann ich meinen Nachfolger in der Praxis fragen, ob ich sie für ein paar Stunden nutzen darf."

      "Das wäre großartig", unterstützte Jikav den alten Mann in seinem Vorhaben. Auffordernd schaute er zu Tandra herüber, die ihre Stirn wiedereinmal in Falten gelegt hatte. Dies tat sie nur dann, wenn sie angestrengt über etwas nachdachte. Der junge Renegat wartete ab, ob Tandra von sich aus erklären würde, was sie beschäftigte. Als sich ihre Miene jedoch nach fast einer Minute immer noch nicht geklärt hatte, fragte er nach.

      "Ich weiß nicht", antwortete seine Liebe unschlüssig. "Ich habe das Gefühl, dass einige Erinnerungen versuchen an die Oberfläche zu kommen. Als hätte ich das alles schon einmal erlebt. Das macht mich nervös."

      "Als wir hier eingetroffen sind, hattest du bereits ein Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein. Auch, wenn du es gleich wieder verneint hast. Es ist doch möglich, dass du damit recht hattest. Ich muss dich jetzt mal etwas ganz anderes fragen. Wie läuft das eigentlich bei dir ab, wenn Doktor Ayki dich umprogrammiert? Was passiert mit den Erinnerungen deiner anderen Charakteren?"

      "Soweit ich von ihm gesagt bekommen habe, werden diese unterbewusst von mir abgespeichert und beim Wiederaufruf desselben Charakters erneut aktiviert." Es entstand eine kurze Pause, dann sprach Tandra weiter. "Du meinst also, die Vergangenheit von Tandra, der Renegatin, bahnt sich langsam einen Weg an die Oberfläche?"

      "Das denke ich. Allerdings verstehe ich nicht, warum das auf diese langsame und mit Unsicherheiten verbundene Art geschieht. Wäre es nicht sinnvoller, wenn du alle Daten auf einmal wieder in deinem Gedächtnis hättest, damit du voll einsatzfähig bist?"

      "Du hast recht", beantwortete sie ihm seine Frage nachdenklich. "Wenn dem nicht so ist, dann muss es dafür einen Grund geben."

      "Ich kann mir auch schon einen denken", mischte sich Thevog in das Gespräch ein. Alle sahen ihn erwartungsvoll an. "Ist eigentlich ganz einfach und logisch. Du sollst dich nicht daran erinnern."

      Es entstand ein langes Schweigen, in dem kaum einer zu atmen wagte. Was der Junge da so ohne Vorwarnung zum Besten gegeben hatte, schien wirklich die einzige Erklärung zu sein, die es gab. Lediglich die Wahrscheinlichkeit, dass die häufige Umprogrammierung von ihrem Gehirn einen oder mehrere Schäden hinterlassen hatte, konnte noch als Begründung greifen. Eventuell konnte der Onkel von Shilané dies durch ein EEG überprüfen, obwohl Jikav aus dem Bauch heraus diese Möglichkeit ausschloss.

      "Was für Erinnerungen hast du denn bislang erlebt?", wollte Misuk interessiert wissen. Dabei schaute sie die junge Renegatin gespannt an.

      "Kann ich nicht sagen. Es waren kurze Sekunden, in denen etwas aufblitzte und gleich wieder verschwand. In einer dieser Sequenzen bin ich scheinbar gefallen und habe laut aufgeschrien. Denke ich jedenfalls. Vielleicht war es aber auch nicht ich, sondern jemand anderes. Ich habe wirklich keine Ahnung."

      "Wenn du durch die Stadt gehst, kommt dir dann irgendetwas bekannt vor?", hakte das Mädchen nach.

      "Bislang nicht. Die Häuser und Straßen erscheinen mir nicht unbekannt. Vielleicht habe ich sie aber auch mal in den staatlichen Nachrichten oder in anderen Medien gesehen", erklärte Tandra lakonisch. Misuk gab ein nicht näher zu definierendes Geräusch von sich und ließ sich wieder zurück in den Sessel fallen, wo sie für die nächste Zeit nachdenklich und stumm sitzen blieb.

      Kapitel 21

      Marah war am folgenden Morgen mit starken Kopfschmerzen aufgewacht. Nachdem sie sich kurz orientiert und sich gefragt hatte, was sie vor dem Kamin machte, fiel ihr der Vorabend wieder ein. Sofort brach sich ihre Wut erneut Bahnen. Wie ein wild gewordener Berserker stürmte sie durch den Wohnraum. Dabei zertrümmerte sie alles, was ihr in die Hände kam. Nach einer Weile fiel ihr Blick auf den Durchgang, hinter dem sich der Schlafraum ihrer Mutter befand. Weiterer Zorn baute sich in ihr auf. Explosionsartig zerbarst die Tür in unzählige kleine Stücke und gab die Sicht auf das Bett frei. Ihre Mutter war nicht da, was sie noch mehr zur Raserei trieb. Mit einem unmenschlichen Schrei reckte sie die Arme nach oben und ballte ihre Fäuste. Die Decke über ihr knackte bedrohlich, dann fing das Schlafzimmer Feuer. Marah schnaufte schwer, nahm die Hände runter und stapfte auf den Ausgang zu.

      Die Quolcose war völlig leergefegt. Scheinbar war jeder auf seiner Arbeitsstelle und selbst die leitenden Mitglieder schienen Besseres zu tun zu haben. Nach einigen Metern drehte sich das Mädchen um. Ihre verzerrte Fratze beobachtete, wie das Haus, das sie gerade verlassen hatte, langsam in sich zusammenfiel und verbrannte. Der Wind fachte die Flammen immer wieder aufs Neue an und trieb diese zwischen den engen Gassen hin und her. Weitere Häuser der Nachbarschaft fingen Feuer. Langsam entspannte sich die Ankilla. Verwundert hob sie ein weiteres Mal ihre Hände in die Höhe, die zuvor teilnahmslos an den Seiten baumelten, und betrachtete sich ihre Handflächen. Dann wanderten ihre Augen zurück zu dem brennenden Haus. Der Gesichtsausdruck wurde aschfahl, während Marah im Minutentakt realisierte, was sie erreicht hatte. Sie war das gewesen, mit ihrer Wut und Aggression. Plötzlich formte sich einer neuer Gedanke. Shilané. Die Ankilla sollte sterben. Jetzt besaß sie die Macht dazu es ihr endlich heimzuzahlen. Sofort machte sie sich auf die Suche nach ihr.

      Eine gute Viertelstunde später erreichte die Ankilla den Platz, wo sich Shilanés Essensausgabe befand. Sämtliche Tische waren voll besetzt und an der Theke standen weitere Menschen, die auf ihre Mahlzeiten warteten. Daycidès Augen wanderten unaufhaltsam über die Menschenmenge, auf der Suche nach ihrer Peinigerin. Doch die ließ sich nicht blicken. Wenn sie nicht hier war, dachte sie, dann kann sie nur im Haus ihres Onkels sein. Mit schnellen Schritte lief das Mädchen durch die Straßen und erreichte die gesuchte Adresse keine dreißig Minuten später.

      "Wir sollten gehen", sagte Misuk vollkommen unerwartet zu Thevog, der sich in ein Buch aus dem Regal des Onkels vertieft hatte. Der schaute sie begriffsstutzig an.

      "Tandra hat gesagt, wir sollen hier warten", erwiderte der Junge trotzig.

      "Tandra wusste auch nicht, was gleich geschieht. Also, steh auf", kommandierte das seltsame Mädchen Thevog herum. "Steh auf oder beende dein Leben." Der Junge sah sie erschreckt mit großen Augen an.

      "Geht es dir gut?", fragte er vorsichtig.

      "Mir schon, aber dir gleich nicht mehr." Mit diesen Worten verließ sie den Raum. Thevog blieb noch zwei Sekunden sitzen, bevor er sich entschloss, ihr zu folgen, doch da kam ihm das Mädchen auch schon wieder entgegen. "Fehlalarm", sagte sie nur kurz, als Misuk an ihm vorbei in das Wohnzimmer zurückging. Der Junge blieb konsterniert im Flur stehen.

      Marah stand immer noch auf der Straße vor dem Haus und überlegte, wie sie vorgehen sollt. Sie dachte an all die Erniedrigungen, die Shilané ihr zugefügt hatte. An all den Hass, der sich in ihr aufgestaut hatte. Daran, dass ihre Mutter nie etwas gegen die Ankilla unternommen hatte. Ihre Mutter. Sie würde die nächste sein, an der sie ihre Rache verüben würde. Plötzlich hatte sie eine viel bessere Idee. Warum das Mädchen nur umbringen,