Ana Marna

Wandlerin


Скачать книгу

„Ganz sicher nicht. Warte kurz. Ich muss nachsehen, wie es diesem Schwein geht.“

      Sie richtete sich auf und ging auf den Mann zu, der reglos neben dem Müllcontainer lag. Der Container hatte eine beachtlich tiefe Delle an der Seitenwand. Offenbar war dieser Widerling mit dem Kopf gegen das Metall geknallt, denn blutige Schlieren zogen sich durch seine Haare und über sein Gesicht hinweg. Karina tastete nach seinem Puls und war erleichtert, dass er noch lebte. Zumindest hatte sie kein Menschenleben auf dem Gewissen. Auch wenn das die Lage verkomplizierte.

      Sie griff nach ihrem Handy und wählte den Notruf.

      In knappen Worten gab sie ihren Standort durch und erwähnte zwei Verletzte. Als nach ihrem Namen gefragt wurde, zögerte sie erst, doch dann gab sie ihn an. Es war sowieso nicht ihr richtiger. Seit Jahren lebte sie unter falschem Namen. Es wäre zwar ärgerlich, wenn sie wieder einen neuen annehmen müsste, vor allem teuer, aber Fanny alleine zu lassen, kam nicht in Frage. Das Mädchen war verletzt und stand unter Drogen. Wer wusste schon, was für Typen hier noch vorbeikamen. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass niemand auf das Geschwätz einer Drogensüchtigen hörte.

      Krankenwagen und Polizei waren erfreulich schnell vor Ort. Karina gab an, dass sie den Mann mit einem Schlag hatte überraschen können und er unglücklich gegen den Abfallcontainer gekracht war. Sein Messer hatte sie vorher in besagten Container geworfen und ihre Jacke um den Bauch gebunden, so dass der blutige Schnitt nicht zu sehen war. Sie hatte kein Interesse, ebenfalls im Krankenhaus zu landen. Die Ärzte hätten sich mit Sicherheit sehr gewundert, dass die Schnittwunde bereits zu heilen begann. Eine der wenigen ihrer unheimlichen Eigenschaften, die sie als positiv empfand.

      Zu ihrer Erleichterung gaben sich die Cops mit einer kurzen Zusammenfassung zufrieden, notierten aber ihre Adresse und forderten sie auf, am nächsten Tag aufs Revier zu kommen, um eine genauere Zeugenaussage abzugeben.

      Sie sagte natürlich zu. Normale Bürger taten so etwas. Und sie war seit sechs Jahren sehr bemüht, diesen Eindruck zu vermitteln. Bisher erfolgreich, doch sie war sich mehr als bewusst, dass sie dabei viel Glück gehabt hatte.

      Auch dieses Mal würde sie welches benötigen. Alles hing davon ab, wie glaubwürdig die kleine Fanny war und was der verletzte Mann erzählte, wenn er wieder das Bewusstsein erlangte.

      Vorsichtshalber würde sie ihre Notfalltasche bereitstellen. Auch wenn es ihr dieses Mal sehr schwerfallen würde, die Stadt zu verlassen. Seit vier Jahren lebte sie hier, hatte sich eine neue Existenz aufgebaut und liebenswürdige Bekannte gefunden, die ihr zumindest einen Hauch von Normalität in ihrem Leben schenkten. Das zu verlieren, würde sie tief treffen.

       Die Jagd wird eröffnet

      

       Asher Hunters Haus, Nähe Springfield, Ohio

      Das Telefon klingelte zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Asher Hunter ließ den Blick zwischen dem Apparat und dem derzeitigen Objekt seines Ärgers hin und her pendeln.

      Dr. Nathalie Bates stand mit verschränkten Armen vor ihm und ihre grauen Augen blitzten ihn herausfordernd an. Ihre langen, silbergrauen Haare umrahmten ein attraktives Gesicht und sie war eine große Frau. Asher musste nicht allzu tief nach unten sehen, um Blickkontakt herzustellen. Und das gefiel ihm außerordentlich gut. Er mochte große, selbstbewusste Frauen. Allerdings mochte er sie noch mehr, wenn sie auf ihn hörten und seine Entscheidungen nicht in Zweifel zogen. Dies wiederum war ein anstrengendes Talent dieser hochintelligenten Frau.

      Nathalie Bates war zweifellos ein Prachtweib und normalerweise würde er diese Auseinandersetzung auf die einzig akzeptable Art beenden. Doch diesmal ging es um seine Tochter und da war es wohl nicht angebracht, Nathalie Bates über den Schreibtisch zu werfen und gründlichst durchzuvögeln.

      „Sophia ist alt genug, um selbst zu entscheiden, mit wem sie zusammenleben möchte“, beharrte diese. „Du kannst sie nicht ewig von allem abschotten.“

      „Sie ist gerade mal zwanzig Jahre alt“, knurrte Asher und versuchte, das beharrliche Klingeln zu ignorieren. „Und Medon ist Achtundsechzig!“

      „Du selbst bist über dreitausend Jahre alt und ich bin erst Anfang vierzig. Das ist also kein Argument. Außerdem hast du selbst gesagt, dass du ihm vertraust und er ein guter Mann ist. Der wirkliche Grund, warum du sie nicht gehen lässt, ist dein Kontrollwahn.“

      Nathalie zwang sich sichtbar zu einer Ruhe, die in ihrem Inneren nicht gegeben war. Asher konnte ihren Adrenalinpegel nicht nur riechen, sondern inzwischen auch sehr gut einordnen. Diese Frau, seine Frau, war noch lange nicht bereit, nachzugeben. Und wenn er ehrlich war, hatte sie natürlich recht.

      Es fiel ihm mehr als schwer, Sophia aus seiner Verantwortung zu entlassen. Auch wenn er wusste, dass Medon seine Tochter vergötterte und sie niemals unbewacht lassen würde, war sie in seinen Augen immer noch Kind und hatte noch so viel zu lernen.

      Wieder schrillte das Telefon und Asher stieß ein genervtes Fauchen aus, während er zum Apparat griff.

      „Die Diskussion ist noch nicht beendet“, warf er in ihre Richtung, bevor er in den Hörer bellte. „Was?“

      „Asher Hunter?“

      Er benötigte nur eine Sekunde, bis er die Stimme eingeordnet hatte, und holte tief Luft. Dann zwang er sich zur Ruhe.

      „Chief Bryan. Was kann ich für Sie tun?“

      „Hm, die Frage ist wohl eher, was ich für Sie tue.“

      Klang dieser Kriegerwolf etwa belustigt? Sie redeten eher selten miteinander und dann auch nur, wenn es um ernste Angelegenheiten ging. Doch die nächsten Worte klangen alles andere als heiter.

      „Sie müssten noch eine unerledigte Akte bei sich liegen haben. Aufschrift Karina Wells.“

      Asher straffte sich unwillkürlich und sah zu Nathalie, die ihn aufmerksam beobachtet hatte und jetzt mit einem kurzen Nicken den Raum verließ. Wieder zwang er sich, ruhig zu bleiben. Dieses Weib brachte sein Blut zum Kochen und forderte ihn mit ihrer Intelligenz und Sturheit täglich heraus. Gleichzeitig war sie die Einzige, die seine Stimmungen sofort erfasste und genau wusste, wie weit sie gehen konnte, ohne ihn zu weit zu treiben. Genauso, wie sie gerade sofort erkannt hatte, dass er nun alle Aufmerksamkeit für dieses Telefongespräch benötigte.

      Um nichts in der Welt würde er diese Frau wieder hergeben.

      Er konzentrierte sich auf seinen Gesprächspartner.

      Karina Wells. Dieser Name hatte ihn schon etliche schlaflose Nächte gekostet. Seit dem Tag vor sechs Jahren, in den Rocky Mountains, an dem sie diesen größenwahnsinnigen Vampir Breda zur Strecke gebracht hatten, verfolgte ihn der Name und er war sich sicher, dass er da nicht der Einzige war.

      Karina Wells war Sprengstoff in ihrer Welt, der ihnen jederzeit um die Ohren fliegen konnte. Ein Geschöpf, das die Existenz aller Wandler, Wölfe, Hexen und Vampire gefährdete.

      Ein Jahr lang waren sie ihr durch das Gebirge und dann quer durch die Staaten gefolgt, bis sich ihre Spur verflüchtigt hatte. Und das war mehr als ungewöhnlich. Wolfsnasen waren normalerweise beharrlich und bisher hatten die Ranger noch jeden gefunden, der auf ihrer Fahndungsliste stand. Doch irgendwie hatte diese Frau es geschafft, unterzutauchen. Seitdem war es, als würde sie nicht existieren.

      Henry Graves, der Stellvertreter von Bryan, vermutete, dass sie den Namen gewechselt und möglicherweise Magie eingesetzt hatte, um das zu schaffen. Möglich war es.

      Der Akte, die sie aus Bredas Versteck gerettet hatten, konnten sie entnehmen, dass die Frau nicht nur gewandelt worden war, sondern auch Wolfs- und Hexengene in ihr aktiviert wurden. Über ihre Fähigkeiten war leider nichts vermerkt gewesen. Aber wenn sie sich gewandelt hatte, dann war sie zumindest mit einigen Kräften ausgestattet, die ihr ein Untertauchen erleichterten. Das war das Talent