Ana Marna

Wandlerin


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gehabt hatte, eine Wandlung zu überstehen. Aber das machte sie vermutlich auch umso gefährlicher. Ihre Akte kannte er inzwischen auswendig. Doch in dieser stand lediglich, dass die Frau sehr stark und sehr schnell war. Zudem hatte sie die Regenerationsfähigkeit eines Wolfes. Womöglich war dies ein mitentscheidender Faktor für die gelungene Wandlung gewesen, aber das konnten sie nur vermuten.

      Genauso unklar war, wie viele von ihren eigenen Fähigkeiten Karina Wells inzwischen weiterentwickelt hatte. Und was sie von den anderen Völkern wusste.

      Dass sie Angst hatte, war ihren Verfolgern natürlich nicht entgangen. Verständlich, wenn man bedachte, was ihr angetan wurde. Doch ängstliche Menschen neigten zu panischen und unüberlegten Handlungen. Und dieses Verhalten war bei verängstigten Wandlern vermutlich noch ausgeprägter.

      Erdil Jadoon war durchaus klar, was das bedeutete. Im besten Fall konnten sie die junge Frau von der Menschenwelt unbemerkt einfangen und in das Volk der Wandler integrieren. Im schlimmsten Fall würde die Welt der geheimen Völker auffliegen. Dazwischen lagen viele Möglichkeiten.

      In den meisten würde Karina Wells sterben.

      Möglicherweise durch seine Hand.

       Erstkontakt der unangenehmen Art

      

       Morton, Illinois

      Es war mitten in der Nacht als Erdil und Leo das Haus erreichten, in dem sie Karina Wells vermuteten.

      Offiziell wohnte hier eine Carol Vaughan, und zwar bereits seit vier Jahren. Carol Vaughan galt als beliebt an der örtlichen High School und hob sich bisher allenfalls durch ihre Unauffälligkeit hervor. Erdil hatte während des Flugs die alten Fotos von Karina Wells mit dem Lehrerbild der High-School-Homepage verglichen und war zum gleichen Schluss gekommen wie Freaky, alias Martin Hicks. Karina Wells trug vor ihrer Entführung lange, blonde Haare, war etwa eins achtzig groß, schlank und durchaus attraktiv. Carol Vaughans Bild zeigte braunes, stufig geschnittenes Haar. Ihre Personalakte bezeugte die gleiche Größe wie von Karina Wells, doch ihre Schultern waren breiter, nahezu athletisch. Die Gesichter ähnelten sich sehr. Beide hatten braune Augen. Doch Carols Gesichtszüge waren hagerer, schärfer ausgeprägt. Und während Karina meistens fröhlich und freundlich der Linse entgegensah, blickte Carol ernst und verschlossen.

      Erdil hatte das Bild lange betrachtet. In ihm war kein Zweifel, dass diese Personen identisch waren. Und die Unterschiede ließen sich sehr gut nachvollziehen. Die Erlebnisse dieser Frau hatten mit Sicherheit ihre Spuren hinterlassen.

      Jetzt betrachtete er das Haus, in dem Carol Vaughan wohnte. Es war eines der kleineren Gebäude in diesem Viertel und eingeschossig. Rundherum ragten die Nachbarhäuser auf, alle deutlich größer und moderner.

      Erdil wusste, dass das Haus zwei Eingänge besaß. Nach hinten ging es in einen winzigen Garten hinaus. Trotz der nächtlichen Stunde brannte noch Licht im Schlafzimmer.

      „Sie ist wohl noch wach“, brummte Leo ihm ins Ohr.

      Erdil nickte knapp. Offensichtliches kommentierte er ungern.

      Ihm wäre es lieber gewesen, wenn sie die Frau im Schlaf überrascht hätten. Doch noch länger warten wollte er auch nicht.

      „Du überwachst den Hinterausgang“, befahl er. „Ich werde klingeln und versuchen, mit ihr zu reden. Wenn sie flieht, halte sie fest. Aber sei vorsichtig, sie soll sehr stark sein.“

      Leo schnaufte verächtlich, nickte aber und setzte sich in Bewegung.

      Erdil sah ihm ärgerlich hinterher. Leo war ein guter Mann, doch er dachte selten weit genug. In seiner Vorstellung waren Frauen nicht stark, sondern schutzbedürftig.

      Das war ein Fehler, wusste Erdil. Er hatte in seinem langen Leben schon viele starke Frauen kennengelernt. Exzellente Kämpferinnen, gegen die er nur schwer bestehen konnte. Zumindest in seinen jüngeren Jahren.

      Von Karina Wells wussten sie im Prinzip gar nichts. Nur, dass sie auf der Flucht war. Wäre er selbst in ihrer Situation, würde er dafür sorgen, kein leichtes Opfer zu sein. Es gab viele Möglichkeiten, sich körperlich fit zu halten und das Kämpfen zu lernen, ohne großartig aufzufallen. Von Carol Vaughan war nichts in der Richtung bekannt, doch das hieß noch lange nicht, dass sie harmlos und hilflos war.

      Er gab Leo ein paar Minuten Zeit, sich in Position zu bringen. Dann ging er langsam über die Straße auf das kleine Haus zu.

      Die Klingel war schrill und ließ ihn unwillkürlich zusammenzucken. Gespannt lauschte er nach Geräuschen.

      Leise Schritte klangen auf. Erst zügig, doch dann wurden sie langsamer. Erdil schluckte einen Fluch hinunter.

      Ihr Geruch war überall wahrnehmbar und eindeutig. Noch nie war er ihr so nahegekommen. Er musste sich zwingen, ruhig zu bleiben. Doch wenn er sie witterte, konnte sie auch seinen Geruch wahrnehmen. Ob sie diesen zuordnen konnte?

      

      

      Karina verharrte wenige Meter vor der Haustür und witterte nervös nach dem Besucher. Der Geruch war ihr fremd. Und doch auch wieder nicht. Draußen vor der Tür stand ein ihr unbekannter Mann, der nicht nur nach Testosteron und Adrenalin stank. Es dauerte einige Sekunden, bis sie erkannte, was sie verwirrte. Von ihm ging ein eigentümlicher Geruch aus, der sie an Asche erinnerte.

      Sie selbst trug ihn auch.

      Seit sie zu einem Monster geworden war.

      Angst kroch in ihr hoch. War dieser Mann ein Monster so wie sie? Jagte er sie? Seine Ausdünstungen ließen darauf schließen. Männer stanken genau so, wenn sie kurz vor einem Kampf standen.

      Die Erkenntnis, dass sie aufgeflogen war, ließ sie kurz die Augen schließen. Ein verzweifelter Laut entglitt ihr.

      Langsam bewegte sie sich wieder rückwärts zum Schlafzimmer, ohne die Haustür aus den Augen zu lassen.

      Ein lauter Fluch von draußen ließ sie zusammenzucken. Eine Sekunde später zersplitterte die Haustür mit einem Krachen.

      Karina drehte sich um und rannte los, quer durch die große Wohnküche zur Hintertür.

      Kaum hatte sie diese aufgerissen, da nahm sie auch schon den zweiten Mann wahr, der gerade auf sie zu hechtete. Er war etwas größer als sie und von athletischer Gestalt. Und er bewegte sich sehr schnell.

      Ihre Sinne erkannten sofort, dass vor ihr kein normaler Mensch stand. Sein Infrarotbild war gedämpfter und die Hitzeverteilung in seinem Körper völlig untypisch für einen Menschen.

      Und auch er trug diesen Asche-Geruch an sich.

      Zögern war keine Option. Mit jedem Schritt mehr nahm sie Fahrt auf. Sie versuchte gar nicht erst, ihrem Angreifer auszuweichen. Mit geballten Fäusten rannte sie ungebremst in ihn hinein.

      Ihr Schlag traf punktgenau sein Kinn. Gleichzeitig krachte ihr Bein in seinen Schritt.

      Die Augen des Mannes glommen gelb auf und mit einem Ächzen ging er in die Knie, um dann langsam nach hinten zu kippen.

      Gerade noch rechtzeitig vernahm sie den Luftzug des Schlags, der sie von hinten treffen sollte, und wich zur Seite aus, direkt in den zweiten Hieb. Er traf sie hart gegen die rechte Schulter und ließ sie nach vorne taumeln. Beinahe wäre sie über den am Boden liegenden Mann gestolpert. Es gelang ihr gerade so, sich abzurollen und wieder auf die Beine zu springen.

      „Bleib stehen!“

      Die Stimme klang hart und unbarmherzig. Karina wirbelte herum und starrte den Mann an. Sein Gesicht war im Dunkeln nicht zu erkennen,