Ana Marna

Wandlerin


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      „Fuck!“ Der Rider sah ihn ungläubig an. „Du redest nicht von dem Tucker O’Brian?“

      „Ich kenne nur einen“, antwortete Tiger trocken. „Und der ist Rudelführer in Minnesota.“

      „Fuck“, wiederholte Storm. „Der Mann ist eine Legende.“

      „Möglich, das kannst du wohl besser beurteilen. Ich habe ihn nur kurz getroffen. Vermutlich verdanke ich ihm sogar mein Leben. Runner meint, dass er Martinak dazu gebracht hat, Ork und mich nicht zu Frischfleisch zu verarbeiten.“ Er verzog das Gesicht zu einer grimmigen Miene. „Nicht, dass ich es ihm leicht gemacht hätte.“

      Storms Neugier war jetzt deutlich zu erkennen. Er lehnte sich zurück und betrachtete Tiger mit verkniffener Miene.

      „Okay“, meinte er schließlich. „Ich gebe zu, das klingt interessant. Ein Outlaw, der Kriegerwölfen eine lange Nase dreht und mit Legenden auf Du und Du steht. Das schreit geradezu nach Ärger. Ihr braucht nicht zufällig noch ein paar Fremdenführer?“

      Tiger konnte ein zufriedenes Grinsen nicht unterdrücken.

      Halleluja. Das versprach interessant zu werden. Wenn er sich nicht täuschte, genossen diese Wölfe einen einschüchternden Ruf bei den örtlichen MCs. Mit ihnen im Gefolge würde er mit Sicherheit schneller das Vertrauen anderer Outlaws gewinnen. Und das hieß: weniger Zeiteinsatz und weniger Stress.

      „Ich denke, Fremdenführer kann man nie genug haben.“

      Er streckte ihm die Hand hin und Storm schlug ein. Sein Händedruck war schmerzhaft, aber Tiger verzog keine Miene. Solange es bei dieser Art von Kräftemessen blieb, war alles bestens.

      Als sie ihre Männer erreichten, war die Stimmung bereits deutlich entspannter. Sofern sich die Anführer einig waren, herrschte Frieden.

      Tiger war gespannt, wie lange das anhalten würde.

      „Ich hoffe sehr, du weißt, was du da tust“, murmelte Dierolf, als Tiger an ihm vorbeiging.

      „Was ist dein Problem, Hangaround? Solltest du nicht eher froh sein, dass wir noch mehr Babysitter am Hals haben?“

      Dierolf ignorierte seinen Spott und erwiderte den Blick ungerührt. „Halte mich nicht für dämlich, Tiger! Dass du deine kriminellen Geschäfte hier abwickelst, finde ich zum Kotzen. Aber die Kerle hier ... Dir sollte klar sein, dass die Jungs der Abschaum unserer Gesellschaft sind. Die leben nur noch, weil sie geschworen haben, niemanden mehr zu töten, und weil sie sich von den Rangers kontrollieren lassen.“

      „Na, da haben wir ja ziemlich viel gemeinsam“, lächelte Tiger böse. „Da steht doch einer Freundschaft wenig im Weg. Außer vielleicht gewisse Babysitter, die ihre Ohren zu weit aufsperren.“

      Dierolf schnaufte verächtlich. „Spar dir deine unsubtilen Drohungen. Solange kein Mensch zu Schaden kommt, höre ich weg. Aber ich lass mich nicht verarschen.“

      „Das ist mir klar, ob du’s glaubst oder nicht.“ Tiger nickte ihm zu. Er wollte den Ranger nicht verärgern. Schließlich brauchte er ihn als Alibi. „Und falls es dich beruhigt: Ich habe nicht vor, jemanden umzubringen. Zumindest nicht, wenn es sich vermeiden lässt. Abgesehen davon werden die Riders durchaus nützlich sein. Die kennen hier viele MCs und können uns den Kontakt erleichtern. Und das bedeutet: mehr Muschis und mehr Bier.“

      Dierolf schnaufte unwillig. „Euer größter Lebenszweck, nicht wahr? Ficken und saufen.“

      „Alles zu seiner Zeit“, grinste Tiger. Er klopfte ihm auf die Schulter. „Sobald die Riders getankt haben, brechen wir auf. Du könntest solange unsere Vorräte kontrollieren und aufstocken.“

      Dierolf schüttelte genervt den Kopf. „Ehrlich, Biker. Irgendwann trete ich dir persönlich in den Arsch. Das wird mir ein echtes Vergnügen sein.“

      Tiger sah ihm amüsiert hinterher. Vielleicht war es Dierolf nicht bewusst, aber zumindest was seine Ausdrucksweise anging, passte er sich den Outlaws immer mehr an. Und nach außen hin war kein Unterschied zwischen ihm und den Bastards auszumachen. Er redete wie sie, bewegte sich wie sie und verhielt sich nach den gleichen Mustern. Tiger war gespannt, wann Dierolf bemerkte, dass er der geborene Biker war. Die Reaktion würde interessant sein.

      Eine halbe Stunde später röhrten sechszehn schwere Maschinen die Straße nach Westen. Vorneweg fuhren Tiger und Storm. Das Schlusslicht bildete wie immer Bernart Dierolf.

      Niemand stellte sich diesem Pulk in den Weg. Jeder war bestrebt, möglichst schnell viel Abstand zwischen sich und die Biker zu bringen.

       Flucht

      

      

       Interstate 70, Nähe Wilson, Kansas

      Der Rastplatz war ungewöhnlich leer, fand Karina, aber das lag vermutlich an der Uhrzeit. Aufmerksam musterte sie die Fahrzeuge, während sie auf den Shop zuging.

      Es dunkelte bereits und einige Trucks parkten auf dem großen Parkplatz neben der Tankstelle. Auch ein paar kleinere Wagen standen in der Nähe. Nichts wirkte auffällig.

      Die letzten zwei Stunden hatte sie als Beifahrerin eines Truckers verbracht, der ihr gutmütig seine ganze Lebensgeschichte aufgetischt hatte. Von Schule über Beruf und Familie war alles dabei gewesen. Karina hatte ihn reden lassen. Das war ihr sehr viel lieber als unangenehmes Betatschen und schlüpfrige Bemerkungen. Er war zwar erregt gewesen, das stach ihr deutlich in die Nase, doch er besaß immerhin so viel Anstand es nicht zu zeigen. Dafür war sie ihm sehr dankbar und hatte beschlossen, früher als geplant auszusteigen, um ihn nicht allzu lange auf die Probe zu stellen.

      In den letzten Stunden hatte sie ihre Flucht aktiv vorangetrieben. Stehlen war mittlerweile keine Herausforderung mehr für sie. Vor vier Jahren noch war das anders gewesen. Jeder Einbruch war ein Risiko gewesen, da sie ihre Fähigkeiten noch nicht unter Kontrolle hatte.

      Das hatte sich geändert. Sie erinnerte sich noch sehr genau, wie geschockt sie war, als sie das erste Mal bemerkte, dass ihre „Monsterhaut“ nicht nur seltsam aussah. Die rotgelben Muster, die sich unentwegt zu bewegen schienen, versetzten sie in die unglaubliche Lage, sich zu tarnen. Nach einigen Versuchen schaffte sie es, sich wie ein Chamäleon völlig ihrem Hintergrund anzupassen, so dass sie sich selbst im Spiegel kaum erkennen konnte. Sie war nahezu unsichtbar. Ganz gelang es ihr noch nicht, doch sie war zuversichtlich, dass sie das mit mehr Übung irgendwann hinbekommen würde. Für Diebstähle reichte es schon aus. Und so hatte sie sich innerhalb kürzester Zeit neu eingekleidet und etwas Geld besorgt. Sie hoffte, dass sie in Jeans, kariertem Hemd und Lederjacke wie eine normale Tramperin aussah. Zumal sie auch noch einen Rucksack bei sich trug. Er enthielt zwei Flaschen Wasser, Trockenfleisch, eine Karte der Vereinigten Staaten und ein kleines Buch, in dem sie die ersten Adressen vermerkt hatte, wo sie auf Raubzug gegangen war. Akribisch notierte sie hier ihre Beute. Wie gesagt, sie wollte es gründlich angehen – und ohne Schuldgefühle.

      Bei der Auswahl der Schuhe hatte sie lange hin und her überlegt, was sinnvoll war. Schließlich hatte sie sich für ein paar Laufschuhe entschieden. Sie konnte nie ausschließen, dass sie wieder wegrennen musste, und da mochte das passende Schuhwerk entscheidend sein.

      Im Laufe des Tages wechselte sie mehrfach das Transportmittel. Zum Schluss war sie bei diesem Trucker gelandet.

      Er war nicht die schlechteste Wahl gewesen. Vielleicht fand sie hier auf diesem Rastplatz ja einen weiteren freundlichen Menschen, der sie nach Westen mitnahm.

      Der Shop war erstaunlich groß, wirkte aber etwas schmuddelig. In den Regalen gab es reichlich Auswahl an Verpflegung, Zeitschriften und sogar diverse Haushaltsgegenstände. Karina beschloss, einige Energieriegel zu kaufen. Proviant war wichtig. Vor allem haltbarer.