Ana Marna

Wandlerin


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für einen Moment überlegte Karina, ob sie tatsächlich aufgeben sollte. Vor ihr stand ein Krieger, das spürte sie instinktiv, und sie selbst hatte nie kämpfen gelernt. Vielleicht war sie ihm an Kraft überlegen, doch ihre Angst überwog. Alles an ihm, sein Geruch und seine Haltung, wirkten bedrohlich.

      In dem Moment, in dem sie sich zur Flucht entschloss, sprang er vor. Es gelang ihr nur knapp, ihm auszuweichen. Er war unglaublich schnell. Schneller noch als sein Mitstreiter, der immer noch am Boden lag. Seine Bewegungen waren fließend und kontrolliert. Sie sah den Schlag erst im letzten Moment und reagierte beinahe zu spät. Die Faust streifte ihre Schläfe und ließ sie zurücktorkeln.

      Eine Hand umfasste ihren Knöchel und brachte sie zu Fall. Der zweite Mann rappelte sich mit einem ächzenden Fluch hoch, während er versuchte, sie an sich heranzuziehen.

      Mit einem verzweifelten Schrei schwang sie das andere Bein herum und traf ihn an der Brust. Er flog mit einem wütenden Brüllen etliche Meter weit nach hinten. Gerade noch rechtzeitig rollte sie herum, um dem Tritt des Zweiten zu entgehen. Wieder trat sie zu, mit all ihrer Verzweiflung.

      

      

      

      

      

      Erdil sah das Bein auf sich zu kommen und drehte sich instinktiv zur Seite. Doch diese Frau war so verdammt schnell, dass sie ihn trotzdem erwischte. Ein höllischer Schmerz schoss durch seine Hüfte und er wurde heftig herumgewirbelt.

      Die Wucht des Treffers ließ ihn, ebenso wie Leo, einige Meter über den Boden schlittern und raubte ihm schlichtweg den Atem. Es dauerte etliche Sekunden, bis er sich wieder aufrichten konnte.

      Von Karina Wells war nichts mehr zu sehen.

      Mit einem Wutschrei torkelte er zu Leo, der sich ebenfalls bemühte, auf die Beine zu kommen.

      „Zur Hölle“, keuchte Leo. „Dieses Weib hat echt ‘nen Tritt drauf.“

      „Du sagst es“, knurrte Erdil mit deutlicher Frustration in der Stimme. Seine Hüfte schmerzte immer noch abscheulich und ließ ihn humpeln. Keine Chance, Karina Wells zu verfolgen.

      „Shit“, fluchte er und stützte sich schwer atmend mit den Händen auf seinen Oberschenkeln ab. „Dieses Miststück ist wirklich stark.“

      „Und schnell“, legte Leo nach. „Die ist losgerannt wie der Teufel.“

      „Verdammt!“ Erdil richtete sich auf. „Wir hatten sie schon!“

      Leo grinste ihn schräg an.

      „Das bist du nicht gewöhnt, nicht wahr? Ich ehrlicherweise auch nicht. Dass ein Weib so stark ist, ist echt nicht normal.“

      Erdil konnte ihm nur zustimmen. Diese Niederlage kratzte arg an seinem Selbstbewusstsein. Karina Wells hatte ihn allein durch Körperkraft ausknocken können. Und ihre Bewegungen und ihre Ausdünstungen hatten ihm sofort verraten, dass sie solche Auseinandersetzungen nicht gewöhnt war. Eine ausgebildete Kämpferin war sie definitiv nicht.

      Daher war es umso frustrierender, dass ihr trotzdem die Flucht gelungen war.

      „Wir brauchen Hilfe!“ Leo sprach aus, was Erdil ebenfalls durch den Kopf geschossen war. Doch es schmeckte zu sehr nach Niederlage, diese Worte in den Mund zu nehmen.

      „Immerhin waren wir noch nie so nahe an ihr dran“, grinste Leo und rieb sich die schmerzende Brust. „Zur Hölle, mir ist noch nie dermaßen die Luft weggeblieben.“

      „Ist was gebrochen?“

      „Ich glaube nicht, aber es war knapp daran.“

      Ob diese Frau all ihre Kraft eingesetzt hatte? Oder hatte sie sich zurückgehalten? Erdil griff zu seinem Smartphone. Es hatte keinen Zweck zu warten. Karina Wells Spuren waren so frisch wie nie. Sie durften sie nicht wieder verlieren.

      

      

      Sie rannte sprichwörtlich um ihr Leben. Hinaus in die Nacht, über die Straßen, durch Gärten und Höfe, bis ihre Lungen brannten. Erst dann wurde Karina langsamer. Irgendwann blieb sie schließlich vornübergebeugt stehen und rang nach Atem.

      Nur kurz blitzte Triumph in ihr hoch. Sie hatte es geschafft, diesen Männern zu entkommen! Und das, ohne dass jemand nennenswert verletzt worden war. Ihr Hochgefühl hielt nicht lange an und wurde von Verzweiflung abgelöst.

      Wieder war sie auf der Flucht. Und wieder würde sie bei null anfangen müssen. Keine Kleidung, kein Geld und keine sichere Identität mehr.

      Karina ballte entschlossen die Fäuste. Was sie einmal geschafft hatte, würde auch ein zweites Mal gelingen. Doch zunächst musste sie Abstand zu ihren Verfolgern schaffen. Alles andere würde sich ergeben. Ob sie es wagen konnte, bei dem gleichen Mann neue Papiere zu kaufen wie vor fünf Jahren? Das barg gewisse Risiken in sich. Allerdings konnte es dauern, bis sie einen anderen Fälscher fand, da ihr schlichtweg die Kontakte zu solchen Leuten fehlten. Damals hatte sie einfach nur das Glück gehabt, in einer heruntergekommenen Bar an dem richtigen Tisch zu sitzen. Pierre Gaubert besaß anscheinend den passenden Riecher, was potenzielle Kunden anging, und hatte sie ungeniert angesprochen. Karina hatte seine schmierige Art nicht gemocht und die Preise, die er verlangte, waren horrend.

      Keine Frage, Pierre Gaubert besaß neben Menschenkenntnis auch Geschäftssinn – und wenig Skrupel, beides zu seinem Vorteil zu nutzen.

      Karina hatte damals keine Wahl. Also zahlte sie und betrat ihr neues Leben als Carol Vaughan.

      Doch jetzt ... Sie sah an sich herunter. Ihr Outfit würde sie wieder verändern müssen. Barfuß und in einen kurzen Pyjama gekleidet erregte sie mit Sicherheit Aufsehen.

      Für einen Moment überlegte sie, ob sie heimlich zurückkehren sollte, um zumindest das Notwendigste einzupacken. Aber der Gedanke an die beiden großen Männer ließ sie diese Idee sofort wieder verwerfen. Noch einmal würden die nicht so leicht zu überrumpeln sein. Und sie machte sich nichts vor: Es war pures Glück gewesen, dass sie allein durch ihre Kraft und Schnelligkeit entkommen war.

      Sie stieß einen Seufzer aus. Also würde sie wieder stehlen müssen. Etwas, was sie hasste wie die Pest.

      Doch dieses Mal würde sie organisierter vorgehen. Sie war wild entschlossen, jedes Diebesgut bei passender Gelegenheit zu ersetzen.

      Nun, ihr erstes Ziel war klar: Entkommen.

      Entschlossen trabte sie los.

       Shadow Riders

      August 2021

      

      

      

       Mitten in den USA

      An die Vereinigten Staaten von Amerika würde er sich gewöhnen können. Tiger genoss es, den Fahrtwind zu spüren, während sie die schnurgerade Fahrbahn entlang brausten. Die Weite der Landschaft war beeindruckend und die Straßen schienen nie ein Ende zu nehmen.

      Gelegenheit genug, die Gedanken schweifen zu lassen.

      Seit etwa drei Wochen kurvten sie quer durch die Staaten. Die grobe Richtung war westwärts, doch seine Liste der MCs, die sie abklapperten, zwang