Hans-Georg Hohlbein

Flüchtige Verstrickungen


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ihre Mutterpflichten, hier und da auch der Ärger mit ihrem Exmann, all das schränkte ihren Freiraum erheblich ein. Manchmal begleitete ich sie nach einem langen Lindencafeabend in ihre Wohnung, suchte für den Rest der Nacht in ihren Armen das Gefühl von Wärme und Geborgenheit, und erspürte durch ihre Nähe den liebenden Menschen. Meine Wohnung im Grenzgebiet hat sie nie kennen gelernt. Elviras zu Hause war für mich die einzige Möglichkeit mit ihr ganz allein in Amors Reich zu entfliehen, die wenigen Momente des kleinen Glücks wahrzunehmen, sich vom bedrückenden Alltag für Sekunden lösen zu können.

      Im ersten Jahr nach dem Mauerbau war es für mich nahezu unmöglich fremde Personen ohne Passierschein in mein vergittertes Liebesnest zu entführen. Erst viel später, als mir einige Wachposten vertrauter wurden, gelang es mir, die eine oder andere weibliche Besucherin, oder manchmal auch Freunde, in meine verlorene Grenzvilla einzuschleusen.

      Umso mehr ich mich freute, dass Elvira jetzt aus heiterem Himmel hereingeschneit war, umso weniger konnte ich meine angespannte innere Nervosität unterdrücken, denn eigentlich war ich ja heute mit Gitti verabredet. Schon allein der Gedanke, was machst du, wie verhältst du dich, wenn sie jetzt wie verabredet zur Tür hereinkommt, beunruhigte mich zutiefst und würde meine freudige Euphorie schlagartig wieder in ängstliche Schuldgefühle umwandeln.

      Mein 19. Geburtstag lag über ein Jahr zurück und mein Verhältnis zu Gitti hatte sich über diesen langen Zeitraum hinweg mehr als intensiviert, wir waren einfach vertrauter geworden, mehr noch, wir glaubten uns wirklich zu lieben, taten alles, um uns so oft wie möglich zu sehen. Wenn ihre Freizeit, und manchmal auch die Durchlässigkeit der Grenze es zuließen, besuchte sie mich am Ort unserer ersten Berührung. Für uns beide war es eine Zeit im Schwebezustand, losgelöst von allen Fesseln und Hindernissen, die Gittis junges Leben damals erheblich eingeengt haben. Für sie war unser heimliches Zusammentreffen eine Nische, ein Zufluchtsort in dem sie ihre bedrückenden Eheprobleme einfach fallen lassen konnte.

      Auch aus meiner Sicht war es nicht allein die neue Eroberung, das neue verliebt sein oder gar eine neue erotische Erfahrung, sondern vielmehr das Einlassen auf eine Beziehung, in der Nehmen und Geben ganz selbstverständlich waren.

      Seit dem Mauerbau vor gut einem Jahr, mussten wir uns ausnahmslos im Lindencafe treffen, und es ist mir auch nur sehr selten gelungen, sie heimlich als so genannte unbefugte Person in mein stilles Reich einzuschleusen.

      Heute war wieder einmal so ein Tag, an dem wir uns unbedingt hatten sehen wollen, an dem ich mit Gitti aus dem Cafe in mein kleines bewachtes Reich fliehen wollte. Aber sie kam nicht, dafür war Elvira gekommen, und es sollte auch den ganzen Abend über so bleiben. Offensichtlich gab es in Gittis Umfeld größere Probleme, die sie massiv am Kommen hinderten, ob es mit ihrem Mann zusammenhing, ob es andere Gründe waren, ich wusste es einfach nicht. Obwohl sich der Abend unendlich dehnte, sogar bis in die tiefe Nacht hineinzog, Gitti tauchte nicht mehr auf, es kam auch keine erklärende Nachricht, keine freudige Botschaft, auch kein anders geartetes Lebenszeichen.

      Mit der voranschreitenden Zeit legte sich nach und nach auch meine ängstliche Nervosität. Die vorsorgliche Entschuldigung, die ich mir Elvira gegenüber zurechtgelegt hatte, brauchte ich fortan nicht mehr.

      Seit jenem Abend haben sich Gittis Spuren im Nichts verloren. Es gab keinen schmerzlichen Abschied, keinerlei Erklärungen, auch keine Briefe. Ich habe sie seitdem nie wieder gesehen.

      Elviras Liebe ist mir geblieben.

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