Hans-Georg Hohlbein

Flüchtige Verstrickungen


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mir weckte. Für einen Moment hatte ich die Königstochter aus dem Märchen vor Augen, dachte an die blasse Schönheit von Schneewittchen, und an das auffallend leuchtende Rot des Mundes in ihrem blassen Antlitz. Und genau dieses märchenhafte Bildnis war es, welches jetzt auf wundervolle Weise den traumhaft strahlenden Herbstmorgen ergänzte, ihn mit gleißendem Sonnenlicht durchflutete. Mein anfänglicher Mut, meine Hoffnung, bis zum Eintreffen des Busses wenigsten kurz mit ihr sprechen zu können, zerrann auf einmal wieder genauso schnell wie er aufgekommen war. Die Anhäufung der vielen positiven Einflüsse um mich herum, das Erlebnis der vergangenen Nacht, das alles war zu viel, ließ mich taumeln, und meine Fähigkeit zu sprechen erlahmen. Mein hoffnungsvoller Blick verschleierte sich, versank schlicht im grauen Dunst der Wirklichkeit, indem sich auch diese wunderbare Vorstellung genau so schnell wieder auflöste, und Schneewittchen lautlos in den Märchentraum zurückschickte.

      Schon wenige Minuten später hüpfte ich, im Kopf zwar noch ein wenig benommen, körperlich aber wesentlich gestärkter, mit der Leichtigkeit einer Gazelle in den vorgefahrenen Linienbus. Ich setzte mich ohne Scheu direkt hinter meine Märchenprinzessin, ließ meine Träumereien ganz langsam ausklingen und mich gemächlich zum Rathaus Babelsberg schaukeln. Als der Bus anhielt, ließ ich auch das Schwärmen aus meinen Kindheitstagen allein im Bus zurück, und schubste Geist und Körper aus dem Traum in die Wirklichkeit. Die beiden Stufen des Ausgangs nahm ich mit einem schwungvollen Satz und mir war, als wäre ich gerade als Prinz dem Märchen entsprungen.

      Leichtfüßig, und ohne mich noch einmal nach Schneewittchen umzusehen, begab ich mich gut gelaunt auf den restlichen Weg ins Studio. Ein kurzer Blick auf die große Standuhr an der Haltestelle verriet mir, dass ich einen Schritt zulegen musste, denn ein wichtiger Termin wartete schon auf mich.

      Ab und zu, bei meinen morgendlichen Gängen zur Bushaltestelle, tauchte das hübsche schwarzhaarige Mädchen wieder auf, trotzdem brachte ich aber nie den Mut auf sie anzusprechen. Eine Restzeit Gitti musste sich wohl nach wie vor noch in mir eingenistet haben, und ließ sich auch nicht so einfach wieder wegwischen. Dieses tief greifende Erlebnis schränkte meine Unternehmungslust jedes Mal erheblich ein, und bremste meinen Drang nach neuen Eroberungen für lange Zeit gewaltig ab. Der kleine Funke Hoffnung, ja allein der Gedanke sie noch einmal wieder zusehen, sie endlich wieder in meine Arme nehmen zu können, blockierte geradezu meine innere Bereitschaft, mich für neue Beziehungen öffnen zu können.

      Erst einige Monate später habe ich Schneewittchen im Lindencafe näher kennen gelernt, erfuhr ihren richtigen Namen und darüber hinaus, dass sie eine Schneiderlehre absolvierte. Aber erst Jahre später hat uns der Zufall auf einer ganz anderen Ebene wieder zusammengeführt.

      4

      Für mich ungewöhnlich früh saß ich an diesem Freitag in der Straßenbahn nach Potsdam, um in der dortigen Milchbar die Leichtigkeit des Spätsommertages in mich aufzusaugen, denn dieser strahlende Vormittag in der ersten Augusthälfte des Jahres 1961 versprach recht heiß zu werden.

      Gerade mal vier Tage war ich aus München zurück, wo ich beim Besuch meiner Spielfreundin aus Kindheitstagen einen aufregenden Urlaub verbracht hatte. Ihre Eltern hatten mir ein Flugticket spendiert, um mir eine Ausreise ohne Grenzkontrolle aus der damals noch offenen Grenze zu Westdeutschland zu ermöglichen. Von Babelsberg mit der S-Bahn nach Westberlin zu fahren war problemlos, und mit einem Flieger der PanAm von Tempelhof nach München zu kommen ein kurzes Vergnügen, denn ich betrat schon nach einer knappen Flugstunde freiheitlichen Boden.

      In den zurückliegenden vierzehn Tagen hatte ich viel Neues gesehen, lernte von der Stadt München mit seinem Hofbräuhaus über den Ammersee bis nach Garmisch-Patenkirchen, dem Kreuzeck und der Zugspitze all das kennen, was Bayern so liebenswert macht. Die Eltern meiner Spielgefährtin hatten die DDR bereits in den fünfziger Jahren verlassen und sich im Westen ihre neue Existenz aufgebaut, was es mir letztlich auch ermöglichte, diesen erlebnisreichen Urlaub im Westen zu verbringen. Mal war ich mit meiner Freundin, die schon auf liebliche achtzehn Jahre zurückblicken konnte allein unterwegs, mal mit ihrem Vater, mit dem ich allerdings mehr die bayrische Kneipenlandschaft kennen lernte, die im Hofbräuhaus ihren Anfang nahm und in der Nacht in irgendeinem Münchner Biersaal endete.

      Wenn ich tagsüber mit meiner Jugendfreundin durch die Innenstadt und über den Stachus promenierte, fielen mir neben den vielen bunten Geschäftsauslagen besonders die überladenen Zeitungskioske ins Auge. Fast alle Tageszeitungen verkündeten in auffällig großen Lettern Ulbricht plant Mauerbau! Richtig begriffen hatte ich nicht, was damit gemeint war, denn der Begriff „Mauer überforderte mein damaliges Vorstellungsvermögen, er war für mich nicht real fassbar. Vielleicht war es Ignoranz mangels besseren Wissens oder es war meine jugendliche Unbekümmertheit, die mich einfach daran hinderte, die Dinge tiefer zu hinterfragen. Teilweise wird es auch das leichte Herzbubbern gewesen sein, das sich durch meine reizende Stadtführerin einstellte und dadurch jeden Gedanken an die große Weltpolitik einfach in den Hintergrund schob. Verdrängen kann so einfach sein, insbesondere dann, wenn das Herz den Verstand regiert. Unter dem Einfluss all dieser aufregenden Erlebnisse und Gefühlsbewegungen genoss ich die unbeschwerten Tage in der bayrischen Metropole, tauchte ein in eine neue, fremde Welt, von der ich mich später nur schweren Herzens trennen wollte.

      Als ich nach zwei Wochen wehmütig von meinen Gastgebern Abschied nahm, hatte ich ein seltsames Gefühl in der Magengegend, das ich mir aber nicht so recht erklären konnte. Alle Bedenken beiseite schiebend, dachte ich nicht einmal mehr an die warnenden Schlagzeilen in den Tageszeitungen und bestieg gut gelaunt den Flieger, der mich zurück in die aufregende, damals noch viergeteilte Metropole Berlin brachte.

      An diesem spätsommerlichen Vormittag betrat ich voller Tatendrang die noch wenig besuchte Milchbar, schaute verloren in die Runde und entschied mich, einfach direkt am Tresen neben einem jungen Mann Platz zu nehmen. Er war bekleidet mit einem grau grün schillernden Anzug, einem weißen Oberhemd mit schmaler, grüner Wildlederkrawatte und auffällig glänzenden schwarzen Halbschuhen. Vor sich hatte er ein halbvolles Cocktailglas stehen, und die darin schwimmende Kirsche ließ auf Gin Fizz schließen, den er offensichtlich genussvoll in kleinen Schlucken nippend geraume Zeit auf der Zunge verweilen ließ, bevor das wacholderhaltige Getränk durch die Kehle den Weg in seinen Magen fand.

      Mit einem freundlichen Nicken setzte ich mich zu ihm, bestellte bei der reizenden Bardame einen Manhattan und während ich ihr beim Schütteln des Mixgetränkes zusah, holte ich aus meiner Jackentasche eine gelbe Zigarettenschachtel hervor, klappte sie auf und entnahm ihr eine ovale Orient, meine Lieblingszigarette. Mit einem viel sagenden Lächeln stellte die hübsche Bardame den Cocktail vor mir auf den Tresen ab, steckte einen Strohhalm in das Glas, schob es ganz nah an mich heran und ihr „Wohl bekomms“ ließ in mir die Hoffnung aufkommen, dass es nicht nur eine Floskel war. In ihren Augen hatte ich ein leichtes Flackern bemerkt, glaubte in meiner Euphorie sogar Anzeichen von Zuneigung erkannt zu haben und kramte sichtlich nervös nach meinem Feuerzeug.

      Mein Barnachbar schien mein vergebliches Suchen zu bemerken, legte seine Zigarette auf den vor ihm stehenden Aschenbecher und griff in seine Jackettasche. Zum Vorschein kam ein silbrig glänzendes, mit einer Gravur versehenes Feuerzeug, welches blitzschnell, wie das Ziehen einer Pistole, mit einer schwungvollen Geste unter meiner Zigarette landete. Schweigend entnahm er dem Aschenbecher wieder den vor sich hin qualmenden Glimmstängel, sah mich kurz an und fast gleichzeitig, als hätten wir uns abgesprochen, zogen wir unseren Rauch in tiefen Zügen ein.

      Interessiert vor uns hin schweigend beobachteten wir beide die Bardame, die mit der Zubereitung eines anderen Cocktails beschäftigt war, dafür dünne Scheiben von einer Zitrone schnitt, sie einritzte und auf den mit einem Zuckerkranz versehenen Rand des Cocktailglases stülpte. Danach verschwand sie an einen der runden Tische im Raum, um das mit Zuckerkristallen dekorierte Glas einem jungen Mann zu servieren.

      Mein Nachbar drehte sich zu mir ein und unterbrach sein Schweigen mit der Feststellung: „Dich habe ich hier aber noch nicht gesehen, bist du das erste Mal hier?“

      Seine Frage bejahend nutzte ich diese Gesprächseröffnung und begann, nicht ganz frei von innerlicher Spannung, von meiner Münchenreise zu erzählen, die mich nachhaltig beschäftigte. Ihn schien das sehr zu interessieren, denn er fragte mich nicht nur über