Hans-Georg Hohlbein

Flüchtige Verstrickungen


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häufig ins Kino. Bei der Vielzahl der vorhandenen Grenzkinos, in denen ich mir schon für eine Ostmark die neuesten Filme aus Hollywood einziehen konnte, nutzte ich jede Gelegenheit, um mir mehrere Filme hintereinander anzusehen.

      Wenn ich am späten Abend bei meiner Tante Tine auftauchte, durfte ich in der Küche auf einem schmalen Sofa die Nacht verbringen. Dass am nächsten Morgen mein Frühstücksei gesichert war, dafür sorgte ausschließlich Amalie, das Einzelkind meiner Tante. Wenn ich früh die Augen aufschlug, hantierte Tante Tine schon in der Küche herum um Kaffee zu kochen. Das Huhn hatte brav sein Ei in die neben mir stehende Holzkiste gelegt, stand aufgeregt gackernd in ihrem Nest aus Stroh und kündigte das vollbrachte Werk durch heftigen Flügelschlag an. Der Sparsamkeit meiner Tante war es zu verdanken, dass sie stets einige Eier in Reserve hatte, somit war sie nicht zwingend auf das Legeergebnis des Tages angewiesen. Gut gefrühstückt verließ ich häufig erst gegen Mittag mein Weddinger Nachtquartier, um mir die heiß begehrten Westfilme anzusehen und ließ Tante Tine allein mit Amalie in der Küche zurück.

      Am heutigen Tag konnte ich sie nur kurz besuchen, ohne die üblichen Besorgungen machen zu können, denn ich war in Eile, wollte schnellstens weiter zum Bahnhof Zoologischer Garten fahren.

      Es war bereits später Nachmittag als ich im Bahnhof Zoo aus der S-Bahn sprang. Gegen Mitternacht sollte mein Zug vom Bahnhof Friedrichstraße nach Mühlhausen gehen und dafür benötigte ich vor allen Dingen einen Vorrat an Zigaretten, denn soweit entfernt von Westberlin würde ich keine einzige Westzigarette bekommen, und genau diese gehörten zu meinen bevorzugten Rauchgewohnheiten. Mit mehreren vierundzwanziger Packungen Peter Stuyvesant in meiner Reisetasche fuhr ich vom Bahnhof Zoo weiter zum Bahnhof Friedrichstraße. Dort wollte ich in das DEFA Zeitkino gehen, um mir einige Kurzfilme anzusehen.

      Die informativen Filme des DEFA Augenzeugen und die satirische Kurzfilmreihe „Die Stacheltiere,“ ließen mich für einige Zeit mein Reisevorhaben vergessen, denn das Besondere beim Besuch des Zeitkinos bestand darin, dass das Filmangebot als Schleife lief. Kam man beispielsweise kurz vor dem Ende eines Filmes, blieb man so lange, bis sich die Szene wiederholte, für Durchreisende eine ideale Gelegenheit für einen kurzen Kinobesuch. Da ich selten Zugreisender war, wollte ich mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen, auch wenn es nur Kurzfilme waren, denn wollte ich Spielfilme sehen, gab es damals ganz andere Möglichkeiten des Kinobesuchs, die so genannten Grenzkinos. In diesen Kinos standen mir internationale Filme, insbesondere aus Hollywood in großer Auswahl zur Verfügung. Begünstigt wurden solche Kinobesuche für Ostler besonders dadurch, dass die Kinokarten zum idealen Wechselkurs von 1:1 verkauft wurden, und das lockte viele Ostberliner in die Kinos. Kurz vor meiner Münchenreise hatte ich gerade im Zoopalast für eine Ostmark die Stärke meiner nervlichen Belastung mit Alfred Hitchcocks Thriller „Psycho“ getestet und allein die Erinnerung an diesen Klassiker des Fürchtens ließ mich für einen Moment erschauern.

      Durch den Zeitkinobesuch hatte ich inzwischen Hunger bekommen und eigens dafür bot der Bahnhof Friedrichstraße den Reisenden eine hervorragende Einrichtung, die MITROPA- Speisegaststätte, in der man recht gut essen konnte. Gemütlich schlenderte ich vom Kino rüber zur MITROPA und suchte mir in der gut gefüllten Gaststätte einen Platz, um in Ruhe speisen zu können. Der Zeiger der großen Uhr an der Wand über dem Tresen rückte bereits auf einundzwanzig Uhr vor, als ich mich an einem freien Vierpersonentisch niederließ, und mich sofort in die Speisekarte vertiefte. Am Nachbartisch hatte ich noch mitbekommen, wie der Kellner zwei Teller mit Beef Tatar brachte, welches so appetitlich mit Sardellenringen, einem Gelbei und saurer Gurke angerichtet war, dass ich nicht widerstehen konnte, mir das auch zu bestellen. Direkt vom Nebentisch kommend steuerte der Ober im schwarzen Anzug und schwarzer Fliege auf mich zu, um nach meinen Wünschen zu fragen. Innerlich bereits voll darauf eingestellt orderte ich umgehend dieses wunderbare Tatar nebst einem halben Liter Bier.

      Zehn Minuten nach Mitternacht sollte der D-Zug nach Gotha über Mühlhausen gehen und etwa gegen sieben Uhr früh dort sein, damit hatte ich genug Zeit, um in Ruhe zu dinieren, was ich ausgedehnt und mit großem Genuss tat. Gegen dreiundzwanzig Uhr bezahlte ich, um noch ein wenig vor dem Bahnhof die angenehm kühle Luft und die nächtliche Friedrichstraße auf mich wirken zu lassen.

      Draußen war es ziemlich ruhig, kaum Verkehr auf der sparsam beleuchteten Prachtstraße, was mir allerdings etwas seltsam vorkam. Bei meinem Bummel um das Bahnhofsgebäude herum bemerkte ich eine ungewöhnliche Ruhe, die ich mir nicht so recht erklären konnte. Erst als ich mich wieder in das Innere des Bahnhofsgebäudes begeben wollte, registrierte ich fast am Rande einige grüne Planwagen der Polizei, die auf der Friedrichstraße in Richtung Bahnhof fuhren. Ein wenig stutzte ich zwar, weil mehrere LKWs kurz hintereinander fuhren, beruhigte mich aber damit, dass es sicherlich einen Polizeieinsatz wegen irgendwelcher Randale gab, schenkte dem Polizeiaufgebot keine weitere Beachtung und ging ganz entspannt durch die Bahnhofshalle zum Fernbahnsteig.

      Wenig später saß ich im Zug nach Gotha, und richtete mich in der Ecke meines Abteils für die Nacht ein. Neben mir saß ein älterer Herr, der bereits schlief und mir gegenüber zwei junge Männer und eine ältere Frau, die ebenfalls dabei waren, sich ein den Umständen entsprechendes Nachtlager zu bereiten. Obwohl ich durch das gleichmäßig monotone Rattern der Schienenstöße schnell eingeschlafen war, erwachte ich bereits gegen vier Uhr und konnte trotz mehrfacher Versuche auch nicht wieder einschlafen.

      Wie auf allen meinen Reisen üblich hatte ich mein kleines „Sternchen“ Kofferradio mit, welches mit einem Ohrstecker ausgerüstet war, sodass man ohne seine Nachbarn zu belästigen, ungestört Musik hören konnte. Den Stöpsel im Ohr schaltete ich das Radio ein, kuschelte mich wieder in meine aufgehängte Jacke und hoffte, mithilfe der Musik vielleicht wieder einschlafen zu können.

      Musik hörte ich erst einmal nicht, aber die letzten Wortfetzen der Vieruhrnachrichten des Senders RIAS Berlin.

      Bruchstücke von: „Nacht...“ und „Grenze zu Westberlin abgeriegelt...,“ konnte ich gerade noch halb im Einschlafen wahrnehmen. Im selben Moment war ich hell wach und drehte nervös am Rädchen der Senderwahl meines Empfängers, um irgendwelche Nachrichten aufzustöbern. Vergeblich, denn üblich war, nur zur vollen Stunde Nachrichten auf fast allen Sendern zu hören. So richtig konnte ich die Musik, die mir von den verschiedenen Sendern entgegendröhnte nicht wahrnehmen, so gespannt war ich auf die nächsten Informationen, die überraschenderweise schon nach wenigen Minuten kamen.

      Aufgeregt und voll konzentriert hörte ich auf jedes Wort der nächsten Verlautbarung: Einheiten der Volkspolizei, vereint mit den Betriebskampfgruppen der DDR, sollten die Grenze zu Westberlin abgeriegelt haben.

      Allmählich erinnerte ich mich an die seltsame Atmosphäre am Abend vor dem Bahnhof Friedrichstraße, konnte allerdings keine logischen Zusammenhänge der Geschehnisse erkennen. In Abständen wiederholte sich auf allen Sendern diese Schreckensmeldung mit der ich allerdings nicht viel anfangen konnte. Ich realisierte einfach nicht die praktische Umsetzung dieser Meldungen, hielt sie mehr für ein Abschreckungsmanöver und ging davon aus, dass es für Berlin und für das Umland, also auch für Potsdam, gar nicht möglich war, alle Verbindungen zu kappen. Fest davon überzeugt bei meiner Rückreise aus Mühlhausen den einen oder anderen Weg nach Westberlin vorzufinden, zog ich mich wieder leise Musik hörend unter meine Jacke zurück.

      Die vier Mitreisenden in meinem Abteil schliefen hörbar fest, denn keiner von ihnen war im Besitz eines Radios. Weder Musik noch Nachrichten störten ihren Schlaf bei der Fahrt in den Morgen des 13. August 1961.

      5

      An diesem spätherbstlichen Oktobertag war das Lindencafe noch wie ausgestorben, die leeren Cafehaustische dämmerten in den Nachmittag hinein, die verwaisten Stühle lauerten auf ihre Stammgäste. Sehnsüchtig auf Gitti wartend, hockte ich neben meinem Freund Chris in der Stammnische des Cafes und döste gelangweilt vor mich hin. Von außen betrachtet mussten wir beide den Vorbeieilenden wie lässig dekorierte Schaufensterpuppen eines Warenhauses vorgekommen sein, die man in die gähnende Leere des Raumes hinein drapiert hatte.

      Ich hatte mich so gesetzt, dass ich durch die großen Schaufensterscheiben genau registrieren konnte, wer draußen vorbei ging. Chris hingegen hielt seine langen Beine weit von sich gestreckt, war intensiv mit seinem Notizkalender beschäftigt, und krakelte