Hans-Georg Hohlbein

Flüchtige Verstrickungen


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Dabei spuckte die alte Dampflok lange Bänder dünner Rauchfähnchen aus, die im Zugwind flatternd in kurzen Stößen zu mir herübergeschickt wurden. Kräuselnd stauten sie sich für Sekunden vor dem offenen Fenster des Abteils, um sich in winzig grauen Fetzen Einlass in das Wageninnere zu verschaffen. Der Rauch begann auf meinen Augen zu brennen, so dass ich mich ganz schnell wieder vom Fenster zurückzog und in die hölzerne Sitzbank des Abteils fallen ließ.

      Trotz des beißenden Qualms war mein Kopf jetzt ein wenig klarer geworden. Zufrieden mit mir selbst streckte ich die Beine weit von mir, lehnte mich ganz entspannt in die sanfte Ausbuchtung der Holzbank und ließ die aufregenden Erlebnisse des Tages noch einmal auf mich einwirken.

      Im schläfrigen Fokus meiner müden Augen nichts als das fliehende Band der gemächlich an mir vorbeiziehenden Versatzstücke des abendlichen Waldes. Über seinen Wipfeln die tief stehende Abendsonne, wie ein kleiner rötlich leuchtender Ball von Ast zu Ast hüpfend. In ihren Augenwinkeln glaubte ich ein freundliches Zwinkern wahrzunehmen, als wolle sie mir sagen; „Gehe deinen Weg, und gehe ihn unbeirrt!“ Von diesem Moment an war ich fest entschlossen, alles für einen Einstieg in die phantastische Welt des Films zu tun, koste es was es wolle.

      Dass ich es nun, knapp drei Jahre später, gemeinsam mit meinem Freund Chris wirklich geschafft hatte beim Film zu landen, erfüllte mich mit einem Gefühl von Stolz und Zufriedenheit, machte mich einfach nur glücklich. Vor uns beiden tat sich jetzt eine fantastische neue Welt auf. Eine Welt voller Abenteuer und Träume, Abenteuer die geradezu darauf warteten, von uns erobert zu werden. Die Atmosphäre eines Filmstudios, das Flair des Filme Machens, für uns hatte es etwas ungeheuer Kribbelndes, mehr noch, jetzt umwehte uns der Hauch der großen weiten Welt. Und atemlos tauchten wir ein, voller Leidenschaft, nahmen gerne diese Herausforderung an, genossen mit allen Sinnen dieses für uns ungeheuer neue, einmalige Lebensgefühl.

      Erfolge kamen, wechselten mit Niederlagen. Als endlich die Erfolge die Niederlagen überholten, lag bereits die erste Etappe unserer gemeinsamen Karriere hinter uns. Mit neuem Arbeitsvertrag und fünfzig Mark mehr Gehalt in der Tasche waren wir unserem Ziel schon ein beachtliches Stück näher gekommen, auch wenn dieser erste Karriereabschnitt über ein gutes Jahr gedauert hatte.

      Wieder war es Sommer. Unser gemeinsamer Erfolg sollte nun auch in einem gemeinsamen Urlaub seine Erfüllung finden. Und so beschlossen wir an die Ostsee zu fahren, um in neue Abenteuer zwischen Sonne, Strand und Meer einzutauchen. Wir waren uns sicher, hatten nicht die geringsten Zweifel:

      Alle Mädchen würden uns zu Füßen liegen! Zwei junge erfolgreiche Männer, das musste man uns einfach ansehen! Und in dieser Überzeugung packten wir eilig unsere Reisetaschen. Im Schnellzug nach Stralsund schwebten wir hoffnungsvoll dem unbekannten Abenteuer mit neuem Glücksgefühl entgegen. Unsere Träume eilten uns voraus, zu braunen Körpern im weißen Ostseesand.

      Mit der Kleinbahn bummelten wir weiter, dampften gemächlich über die Insel Usedom bis in das kleine Fischerdörfchen Ückeritz und fanden auch sofort eine Unterkunft, die sich in einer kleinen Schilf gedeckten Kate befand. Das kleine Häuschen, im Inneren eines großen Hofes gelegen, war eher ein Nebengelass, und nicht zuletzt auch das einzige Quartier was zu dieser Zeit noch zu haben war.

      Im Haupthaus, einem lang gestreckten Bau mit Innenhof, befanden sich die eigentlichen Urlauberzimmer. Ungewöhnlich die riesige Toreinfahrt, sie musste früher einmal einem großen Bauernhof gedient haben, in dem mir das kleine Reet gedeckte Fachwerkhäuschen im hinteren Teil des Hofes etwas verloren vorkam. Anders als das große Haus, erinnerte die kleine Hütte noch an den Ursprung des Ortes, der einmal ausschließlich von Fischern besiedelt war. Da aber alle Gästezimmer im Haupthaus belegt waren, schickte uns die Vermieterin in das kleine Fischerhäuschen, dessen Eingangstür weit offen stand, und die uns ohne Vorraum direkt in die Küche führte.

      Im Inneren der Kate, vor dem gusseisernen Wandherd, stand die Oma der Familie, eine sehr alte Dame, die gerade mit einem großen Holzscheit das Feuer ihres Ofens fütterte. Bekleidet mit dem typisch schwarzen Kopftuch und einer blassblauen, klein karierten Schürze, dirigierte sie emsig mit einem Feuerhaken die Kochringe über der offen lodernden Herdflamme, als hätte sie in ihrem ganzen Leben nie etwas anderes getan. Durch den Schatten in der Tür aufgeschreckt drehte sie sich zu uns ein, wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und begrüßte uns ausgesprochen freundlich auf Plattdeutsch. Wenn sie zu reden begann, gravierte das schräg einfallende Sonnenlicht tiefe Furchen in ihr Lächeln, Spuren eines Lebens, indem Urlaub wohl nie vorgekommen ist.

      Unser Zimmer musste vermutlich der kleine schmale Raum sein, der direkt links am Kochherd vorbei von der Küche abging. Die Tür, die an der rechten Herdseite gelegen war, führte anscheinend zum Wohnzimmer der alten Dame. Doch bevor sie uns in unsere Behausung entließ, deutete sie an, unbedingt einen Blick in ihr Wohn und Schlafgemach zu werfen. Dabei strichen ihre vom Alter gezeichneten, sonnengebräunten Hände mehrmals flüchtig über den Schürzenrand, als wolle sie sich für ihre Küchenarbeit bei uns entschuldigen. Ein liebenswürdiges Lächeln legte sich über die Runzeln ihres Gesichtes, als sie jetzt emsig vom Herd weg auf die leicht vergilbte Tür zuschlurfte, die alte Messingklinke ganz bedächtig herunterdrückte, um uns nicht ohne Stolz einen kurzen Einblick in ihr kleines Reich zu gewähren.

      Auf die sorgfältig polierten Gründerzeitmöbel, die aus einem dunkelroten Plüschsofa, einem ovalen Tisch mit Spitzendeckchen und einer wunderschönen Glasvitrine bestanden, flimmerte gedämpftes Sonnenlicht durch die kleinen Katenfenster. Von diesem Anblick waren wir beide so gebannt, dass wir auf der Stelle erst einmal wie angewurzelt stehen blieben. In dieser konservierten Stille wagten wir kaum den alten Webteppich zu betreten, betrachteten mit großen Kinderaugen ein gold gerahmtes Bild mit Elfenreigen und fühlten uns beinahe in jene Zeit zurückversetzt, in der das Ticken der Wanduhr das einzige Geräusch im Hause gewesen war. Staunend, mit offenen Mündern, wie ehrfurchtsvolle Christen vor einem barocken Altar, standen wir reglos vor dem Allerheiligsten der alten Dame. Und erst nach einer geraumen Weile zogen wir uns, andächtig wie Gläubige, die am Ende einer Messe die Kirche wieder verlassen wollen, mit bewundernden Worten aus dem kleinen, museal anmutenden Raum zurück.

      Vorsichtig zog die alte Dame die Tür ins Schloss und blieb noch kurz in der Küche am Herd stehen, um den Wasserkessel wieder auf die Ringe über der Feuerung zu setzen. Erst nachdem sie dieses Ritual sorgfältig zu Ende gebracht hatte, nahm sie ein Schlüsselbund von der Hakenleiste ihrer Kochstelle, schlurfte auf die kleine Tür neben dem Herd zu, öffnete sie und bat uns einzutreten. Dabei vergaß sie nicht zu erzählen, dass dieser Raum früher einmal das Kinderzimmer gewesen war und ging, ihre Erzählung fortsetzend, noch einmal in die Küche zurück, um für uns das notwendige Frühstücksgeschirr zu holen. Behutsam stellte sie das voll beladene Tablett auf das kleine runde Tischchen unter dem winzigen Katenfenster ab und zog sich mit einem freundlichen Nicken aus der schmalen Behausung zurück.

      Wenig später hörten wir sie wieder geräuschvoll mit den Ringen des Herdes hantieren, während wir erhebliche Mühe hatten in der Enge des Zimmers unsere Sachen unterzubringen. Die beiden Liegen mussten früher zwei Kinderbetten gewesen sein, ein Nachtschränkchen, ein kleiner Tisch und zwei schmale Stühle, das alles war mit viel Geschick in das kleine Zimmer gestopft worden. Chris der sehr groß war, hatte erhebliche Probleme mit der kleinen Schlafgelegenheit klar zu kommen, doch unser beider Toleranz war letztlich größer als die kurzen Betten und der winzige Raum, zumal wir uns hier ausnahmslos in der Nacht aufhalten wollten, oder das, was letztlich von ihr übrig blieb.

      Wohnkomfort interessierte uns damals überhaupt nicht, uns drängte es geradezu ans Meer, hin zu den unendlichen Weiten, dorthin wo die Freiheit grenzenlos ist, und wo das Abenteuer mit Sicherheit schon auf uns wartete.

      Für uns begann der Tag gewöhnlich am späten Vormittag, wenn wir an der etwas schwerhörigen Oma vorbei schlichen, um an den weit weg gelegenen Strand zu wandern. Auf dem Herd summte zu jeder Tageszeit der Wasserkessel, und sein monoton pfeifendes Klagelied schwebte zeitlos über der dahindämmernden Küche. Jedes mal wenn uns die alte Dame wahrnahm, drehte sie sich freundlich zu uns ein, und es hatte den Anschein, als würden sich die Runzeln ihres Lächelns oberhalb der Stirn mit den Falten ihres Kopftuches vereinen. Unseren Morgengruß erwiderte sie stets mit dem gleichen Satz: „ Ja, ja, nu jeht et wieder an jrünen Strand der Spree.“ Dabei streifte sie, wie ich