Irene Dorfner

Blaue Diamanten


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jemandem an der Haltestelle in Holzkirchen etwas überreicht, das sie hier in Wolfratshausen an der Haltestelle in den Papierkorb werfen sollte. Es widerstrebte ihr Verbrechern zu helfen, aber der Schutz ihrer Kinder ging vor. Ihre Kinder! Sie musste so schnell wie möglich zu ihnen, sie machten sich bestimmt schon Sorgen. Sie riss sich zusammen, sammelte ihre letzten Kraftreserven und rannte und rannte. Nach zwanzig Minuten stand sie vor dem Mehrfamilienhaus und schloss mit zitternden Händen die Haustür auf. Sie lief außer Atem in die dritte Etage und öffnete die vertraute Wohnungstür. Während sie den Schlüssel im Schloss drehte, hörte sie aus der Wohnung keinen Mucks. Waren ihre Kinder gesund? Sie warf ihre Handtasche in den Flur und lief ins Wohnzimmer; beide Kinder lagen auf dem Sofa und sahen fern. Als sie ihre Mutter bemerkten, waren sie erschrocken.

      „Mami, warum weinst du?“ fragte Hannah. Aber Jenny sagte kein Wort, sondern nahm ihre Kinder unter Schluchzen in ihre Arme und drückte sie fest an sich. Sie brauchte einen Moment, um sich zu beruhigen. Auf dem Weg nach Hause waren ihr die schrecklichsten Gedanken durch den Kopf geschossen, aber ihre Kinder waren in Ordnung. Sie musste herausfinden, was passiert war und befragte beide so behutsam wie möglich. Aber weder ihrem Sohn, noch ihrer Tochter kam heute oder in den Tagen zuvor etwas ungewöhnlich vor. Hatte der Mann nur geblufft? Gedankenversunken machte sie sich ans Abendessen. Sollte sie sich den Anweisungen des Mannes fügen? War das nur ein dummer Scherz? Wie auch immer: Sollte sie in Holzkirchen tatsächlich von jemandem angesprochen werden, würde sie genau das tun, was man von ihr verlangte.

      Zwei Tage passierte nichts. Sie war unsicher und blickte sich fortwährend um. Der Mann hatte gesagt, sie solle sich normal benehmen, was ihr sehr schwerfiel. Nachdem sie die letzten drei Nächte kaum geschlafen hatte und hinter jedem Eck irgendjemanden vermutete, mahnte sie sich zur Vernunft. Sie beschloss, das Gespräch mit dem Unbekannten abzuhaken und als dummen Scherz abzutun, schließlich liefen genug Verrückte herum. Als sich auch bis Ende der Woche niemand an sie gewandt hatte, verdrängte sie den Vorfall aus ihren Gedanken.

      Am Dienstag der neuen Woche wurde sie nach der Arbeit angesprochen. Die Begegnung mit dem Unbekannten war nur ganz kurz. Jenny stand an der Bushaltestelle und wartete im Regen unter ihrem großen Schirm auf den Bus der Linie 12. Der Bus bog um die Ecke.

      „Nehmen Sie,“ sagte der hagere Mann und war schnell verschwunden. Jenny wollte dem Mann hinterher, stoppte aber dann und steckte den gepolsterten Umschlag rasch in ihre Regenjacke. Hatte einer der anderen Fahrgäste den kurzen Moment beobachtet? Ihr wurde schlecht und sie war abermals kurz davor, sich zu übergeben. Schlagartig waren die Worte des Fremden der letzten Worte wieder präsent. Die anderen Fahrgäste gingen an ihr vorbei und stiegen in den Bus ein. Einige von ihnen sahen sie fragend an, sagten aber nichts. Was sollte sie jetzt tun? Sie hatte etwas Verbotenes in ihrer Tasche und nun die Aufgabe, dieses an ihrer Haltestelle in Wolfratshausen in den Papierkorb zu werfen. Davon hing die Gesundheit ihrer Kinder ab und nur darauf sollte sie sich konzentrieren.

      „Was ist mit Ihnen?“ fragte der Busfahrer freundlich und strahlte sie an. Erst jetzt erkannte sie Magnus Hofberger. Der Busfahrer hatte eindeutig ein Auge auf sie geworfen und lud sie in regelmäßigen Abständen immer wieder zum Essen ein. Oder machte er sich nur über sie lustig? Wie auch immer; sie hatte an Männern kein Interesse mehr und lehnte stets ab.

      Sie musste reagieren und endlich aus ihrer Lethargie herauskommen. Was hatte der Mann letzte Woche zu ihr gesagt? Sie sollte sich so normal wie möglich verhalten. Sie zog ihre Monatskarte aus der Tasche und hielt sie Magnus Hofberger hin, der aber nur Augen für sie hatte. Jenny zwang sich zu einem Lächeln und setzte sich auf einen der Plätze, die sie auch sonst einnahm: Weit hinten im Bus, wo sie ihre Ruhe hatte.

      Magnus Hofberger war irritiert und sah der Frau hinterher. Was war heute mit Jenny los? Sie benahm sich anders als sonst und war sehr blass. Ging es ihr nicht gut? Während der Fahrt sah er immer wieder in den Rückspiegel. Jenny saß regungslos auf ihrem Platz und starrte vor sich hin. Hatte er sich ihr Verhalten nur eingebildet? Nein, er kannte sie lange genug. Von Anfang an war er von ihrem natürlichen Wesen und ihren Augen fasziniert. Er hatte von einem geschwätzigen Fahrgast erfahren, dass sie alleinerziehende Mutter von zwei Kindern war und dass sie von ihrem Mann verlassen wurde. Er hatte Hochachtung vor der Frau, die für den Lebensunterhalt und die Erziehung der Kinder allein verantwortlich war. Er hatte sie mehrmals eingeladen, aber sie ging nicht darauf ein. Aber so schnell gab er nicht auf. Irgendwann würde sie seine Einladung annehmen, er konnte warten.

      Es gefiel ihm nicht, wie sie ihn vorhin angesehen hatte. Sie war nicht krank, ihre Augen waren voller Angst. Am liebsten hätte er sie darauf angesprochen, aber das stand ihm nicht zu.

      Jenny starrte auf einen Punkt vor sich, ohne davon Notiz zu nehmen. Langsam beruhigte sie sich. Was war das in ihrer Tasche? Was war in dem Umschlag? Sollte sie ihn öffnen? Oder zumindest abtasten?

      Dann stieg ein Kontrolleur ein. Gerade heute! Sie kannte den Mann nicht. Warum auch? Die Kontrolleure wechselten ständig und da sie nichts zu befürchten hatte, hatte sie sich noch nie Gedanken darüber gemacht. Aber heute. War der Mann echt oder vielleicht von der Polizei? Die verrücktesten Gedanken schossen ihr durch den Kopf und sie wurde panisch. Der Kontrolleur war nicht mehr weit von ihr entfernt. Was sollte sie tun? Sollte sie ihm den Umschlag aushändigen? Nein, dann wären ihre Kinder in Gefahr. Sie musste sich zwingen, sich so normal wie möglich zu geben. Sie atmete schwer und betete, dass das niemandem auffallen würde. Dann kam der Kontrolleur auf sie zu, er war nur noch zwei Schritte entfernt. Noch hatte sie die Chance, das alles hier zu beenden. Noch hatte sie die Möglichkeit, der Polizei alles zu erklären und sie wäre aus dem Schneider. Sobald sie den Umschlag wie angegeben in den Papierkorb warf, war sie Mittäterin. Was sollte sie tun? Der Kontrolleur war bei ihr und sie zögerte einen Moment. Der Mann zeigte seinen Ausweis und sie hielt ihm mit zitternden Händen die Monatskarte vor. Der Mann lächelte und nickte, dann ging er weiter. Die Chance war vertan. Jetzt war sie Mittäterin.

      Sie konnte es kaum erwarten, an ihrer Haltestelle in Wolfratshausen anzukommen. Sie ging sehr langsam und ließ die anderen Fahrgäste an ihr vorbeigehen. Jetzt! Unbemerkt warf sie den gepolsterten Umschlag in den Papierkorb. Sie war erleichtert, als sie ihn endlich wieder vom Hals hatte. Dann ging sie rasch nach Hause. War es das gewesen? Würde man sie jetzt endlich in Ruhe lassen?

      Jenny hatte nicht bemerkt, dass sie beobachtet wurde. Sie hatte auch nicht bemerkt, dass die Frau im Bus schräg vor ihr sie immer im Blick hatte.

      „Was denkst du? Können wir ihr trauen?“ fragte der ältere der beiden. Lutz Bräu war 52 Jahre alt und trug einen dunklen Anzug. Er war nervös, ob sein Komplize die richtige Person für den Auftrag ausgesucht hatte und war zufrieden. Die unscheinbare Frau machte exakt das, was sie von ihr erwarteten.

      „Du hast sie doch selbst gesehen. Wie alle Mütter liebt sie ihre Blagen und würde alles tun, um sie zu schützen. Trotzdem werden wir noch einen weiteren Testlauf mit ihr machen.“ Daniel Thalhammer war 44 Jahre alt. Er war derjenige, der Jenny Löffler ausgewählt hatte. Thalhammer war gelernter Glasbläser und wuchs im Bayrischen Wald auf. Allerdings war die Enge und Spießigkeit des Landlebens nicht sein Ding, ihn zog es in die Großstadt nach München und er versuchte dort sein Glück. Er fand keine Arbeit, sein erlernter Beruf war in der Großstadt nicht gefragt. Er war seit vielen Jahren arbeitslos und hielt sich mit kleinen, krummen Geschäften über Wasser. Als Lutz Bräu auf ihn zukam und ihm von dem Plan erzählte, hielt er ihn für übergeschnappt. Die ganze Sache klang zu einfach! Dann hatte er Blut geleckt. Wenn der Coup gelang, war er ein gemachter Mann. Bräu war sehr intelligent und Thalhammer fühlte sich in dessen Gesellschaft immer klein und dumm.

      „Der Mann hat auch gut funktioniert, aber er gefällt mir nicht. Die Frau ist perfekt. Ich hoffe, wir brauchen die beiden nicht und die Sache läuft glatt ab.“

      „Wie gesagt, werden wir noch einen Testlauf machen,“ sagte Thalhammer, der sich sofort angegriffen fühlte. Er hatte sich mit der Auswahl der beiden Personen große Mühe gegeben und war sich sicher, dass er gut gewählt hatte. Aber er hatte auch Manschetten vor Bräu, der sehr ungehalten werden konnte, wenn er sauer war. Hier durfte er nicht versagen. „Ich schlage vor, dass wir die Testläufe mit zusätzlichen Drohungen untermauern. Sicher ist sicher.“

      „Wie du meinst. Wenn