Irene Dorfner

Blaue Diamanten


Скачать книгу

Langeweile so verbittert geworden war. Seitdem sie zuhause war und sich langweilte, hatte sie sich auf seinen Vater eingeschossen und machte ihm mit ihren Vorhaltungen und Sticheleien das Leben zur Hölle. Seit sein Vater vor zwölf Jahren starb, war er nun dran.

      Seine Mutter regte sich über seine Widerworte auf und er entschuldigte sich mehrmals, wobei er ständig auf die Uhr sah. Die Zeit drängte, der Bus wartete nicht auf ihn. Als er endlich vor der Tür stand, musste er sich beeilen. Erst als er im Bus saß, fühlte er sich wohl. Kein Geschrei und kein Gekeife, hier konnte er sich entspannen und zur Ruhe kommen. Wie oft hatte er seiner Mutter die Pest an den Hals gewünscht? Aber sie war seine Mutter und er musste sie so nehmen, wie sie war. Was würde aus ihm werden, wenn sie nicht mehr da wäre? Brauchte er sie wirklich oder machte er sich nur etwas vor? Tamino wischte die Gedanken beiseite und dachte nur noch an seinen Bordellbesuch im Kolibri in der nächsten Woche. Die Damen warteten bestimmt schon auf ihn, schließlich war er ein großzügiger Gast, der keinen Ärger machte. Er verschwendete nicht einen Gedanken an den Mann, der ihn bedroht hatte und der von ihm einen Kurierdienst quasi erzwang. Warum auch? Kohle für nichts. Was sollte dabei schief laufen?

      Jenny war da weniger entspannt. Immer und überall erwartete sie, von jemandem angesprochen zu werden. Wer war der Mann, der ihr den Umschlag übergeben würde? Irgendwoher kannte sie ihn, aber woher? War er einer der Fahrgäste? Oder sogar ein Kollege oder Nachbar? Täuschte sie sich, oder handelte es sich bei ihm um einen Fremden? Wurde auch er bedroht? Womit wurde er unter Druck gesetzt? Die ständigen Gedanken zermürbten sie und sie musste sich ermahnen, sich endlich zusammenzureißen.

      Am liebsten wäre sie zuhause geblieben und hätte sich in ihrem Bett verkrochen, zumal sie seit dem Wochenende eine satte Erkältung mit sich herumschleppte. Die Kinder wollten unbedingt zur Eisbahn und Schlittschuhlaufen. Die Eislaufsaison ging ihrem Ende zu und sie wollte ihren beiden Kleinen diesen Spaß gerne erlauben. Natürlich hatte sie sie begleitet und stand an der Bande und wartete, während ihre Kinder sich mit Freunden vergnügten. Sie hätte sich wärmer anziehen sollen, sie hatte die Kälte unterschätzt. Dann stand er plötzlich da, einfach so. Der Mann, der ihr gedroht hatte stand an der gegenüberliegenden Bande und sah zu ihr herüber. Was wollte er hier? Und wie kam er hierher? Minutenlang stand er da und sie verstand seine Drohung: Er wusste, wo sich ihre Kinder aufhielten! Das allein reichte ihr. Ihr wurde schlecht und sie bekam noch mehr Angst. Auch noch nachdem er längst verschwunden war, war die Angst nicht verflogen. Die Sache war ernst, sehr ernst sogar und sie machte sich Sorgen um ihre Kinder und um sich selbst. Wer würde sich um Hannah und Oskar kümmern, wenn sie nicht mehr da wäre?

      Die lachenden Kinder brachten sie auf andere Gedanken. Sie erzählten von dem aufregenden Nachmittag noch den ganzen Abend, bis sie erschöpft ins Bett fielen. Ihre Füße waren immer noch kalt und der Kopf war heiß. Sie durfte nicht krank werden, nicht jetzt! Der Mann hatte ihr gesagt, dass sie nicht krank sein dürfe. Entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten nahm sie alle möglichen Erkältungsmittel ein, die sie finden konnte. Einige waren nur für Kinder, andere waren schon abgelaufen. Aber das war ihr egal. Der Mann hatte deutlich gesagt, dass sie jeden Tag zur Arbeit gehen solle und dieser Anweisung musste sie folgen.

      Wie lange würde das Spiel noch gehen? Wann konnte sie endlich wieder in Ruhe und Frieden leben? Was hatte sie diesem Mann eigentlich getan? Warum wurde gerade sie ausgewählt?

      So fuhr sie also zur Arbeit. Was blieb ihr anderes übrig? Es war ihr am Freitag endlich gelungen, ihre Kinder in die überzogene Betreuungsgruppe in der Schule unterzubringen. Sie hatte den Rektor quasi angefleht, ihre Kinder zu nehmen, bis er schließlich nachgab. Hannah und Oskar waren jetzt am Abend nicht mehr allein und sie konnte sie nach der Arbeit direkt von der Schule abholen. Ihre Kinder würden nicht mehr alleine sein und waren so vor dem Fremden geschützt. Diese Sorge wurde ihr genommen.

      Sonst freute sie sich auf ihre Arbeit und auf ihre Kollegen, aber seit letzter Woche war ihre Freude verflogen. Sie funktionierte nur noch.

      Magnus rief durch den Bus und wünschte ihr einen schönen Tag. Sie erwiderte nichts darauf und stieg aus. Warum war sie ihm gegenüber nur so abweisend? Das spielte jetzt keine Rolle, Magnus war nicht das Problem. Ihr Problem war dieser unsägliche Kurierdienst, mit dem sie eine Straftat beging und zu dem sie gezwungen wurde. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich zu fügen.

      Hedwig Berenz hatte sich während des Wochenendes über Jenny Gedanken gemacht. Sie musste etwas unternehmen, denn mit ihr stimmt etwas nicht. Und so, wie sie sich heute Morgen verhielt, wurde sie darin bestätigt. Als Jenny ausgestiegen war und der Bus losfuhr, ging sie direkt zu Magnus. Sie wusste, dass das verboten war, aber das war ihr egal. Sie kümmerte sich auch nicht um die Blicke der anderen Fahrgäste, auch die waren ihr völlig gleichgültig.

      „Frau Berenz? Setzen Sie sich bitte,“ sagte Magnus erschrocken, als ihn Hedwig ansprach. „Sie wissen, dass es verboten ist, mit dem Fahrer während der Fahrt zu sprechen.“

      „Papperlapapp,“ sagte sie nur. „Was ist mit unserer Jenny los?“

      „Was soll mit ihr sein?“

      „Stellen Sie sich nicht so dumm. Ich habe gesehen, dass Ihnen ihr Verhalten auch aufgefallen ist. Wenn Sie mich fragen, hat sie Angst.“

      „Vielleicht hat sie private Probleme, die uns nichts angehen sollten. Und jetzt setzen Sie sich endlich.“

      Hedwig war Magnus‘ Anweisung gleichgültig. Wenn sie sich jetzt setzte, musste sie brüllen und Ohren, die ihre Unterhaltung nichts anging, würden unweigerlich mithören.

      „Privat ist bei ihr alles beim Alten. Jenny hat die Kinder in die überzogene Schulbetreuung gegeben und holt sie nun am Abend direkt von dort nach der Arbeit ab. Sonst ist mir nichts aufgefallen. Wenn etwas vorgefallen wäre, hätte ich das mitbekommen. Ich habe mich sogar am Samstag mit Oskar unterhalten können, der mir ganz normal schien.“

      „Frau Berenz! Sie können doch nicht einfach Jennys Kinder belästigen!“

      „Wie soll ich sonst herausfinden, was mit ihr los ist? Denken Sie, es hat mit dem Mann zu tun, der Jenny einige Tage beobachtet hat? Und sagen Sie nicht, Ihnen ist das nicht aufgefallen.“

      „Doch, das ist mir aufgefallen. Was wissen Sie von dem Mann?“

      „Nichts. Ich habe mich hauptsächlich um Jenny gekümmert.“ Sie waren an Hedwigs Haltestelle angekommen und der Bus stoppte. Hedwig kam nun ganz dicht an Magnus‘ Ohr. „Ich habe von dem Mann heimlich ein Foto machen können.“

      „Wie bitte? Warum das denn?“

      „Ich mache mir Sorgen um Jenny. Falls ihr etwas passiert, habe ich für die Polizei zumindest ein Foto vom Täter.“ Hedwig stieg aus.

      „Sie lesen zu viele Krimis Frau Berenz,“ lachte Magnus, schloss die Tür und fuhr los. Sofort verstummte sein Lachen. Ihr war der Mann also auch aufgefallen. Er dachte schon, dass er halluzinierte. Hedwig Berenz hatte ihn mit ihren düsteren Ahnungen angesteckt und nun machte er sich ebenfalls große Sorgen um Jenny. Was, wenn Frau Berenz mit ihrer Vermutung richtig lag und Jenny in Gefahr war?

      Um Tamino sorgte sich niemand. Warum auch? Er benahm sich wie immer. Er saß aufrecht auf seinem Platz und sah nach draußen. Kannten ihn die anderen Fahrgäste und der Fahrer der Line 38 überhaupt? Waren sie ihm bekannt? Nein, Tamino interessierte sich nicht für andere und dachte nur an sich. Seit Jahren fuhr er mit dem Bus, was sehr viel länger dauerte und viel umständlicher war, als mit der Bahn zu fahren. Die Fahrtzeit machte ihm nichts aus, er hatte am Abend sowieso nie etwas vor. Die Fahrt mit dem Bus kostete ihn nichts, denn sein Arbeitgeber übernahm die monatlichen Kosten. Nicht für die Bahn, nur für den Bus. Diese Vertragsklausel stammte noch aus früheren Zeiten, in denen eine Bahnfahrt kaum bezahlbar war. Keiner seiner Kollegen störte sich an dieser Klausel, denn fast alle fuhren mit dem Wagen. Tamino nicht. Er hatte keinen Wagen, er hatte nicht einmal einen Führerschein. Warum also sollte er unter diesen Umständen mit der Bahn fahren? Das kostete nur unnötig Geld, das er sich sparen konnte. Er fuhr tagaus, tagein auf Kosten des Arbeitgebers mit dem Bus und war zufrieden.

      Auch bei Tamino wollte Thalhammer am Wochenende nochmals Druck ausüben, aber dieser Ignorant