Irene Dorfner

Blaue Diamanten


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kannst dich auf mich verlassen Boss.“

      Thalhammer hoffte, dass sie auf die Hilfe der beiden nicht angewiesen sein würden. Wenn alles glatt lief, brauchten sie sie nicht. Von Anfang an bestand Bräu darauf, einen Plan B zu haben, falls Probleme auftauchten. Thalhammer selbst hielt das im ersten Moment für vollkommen überflüssig. Je länger er sich darüber Gedanken machte und je näher der Zeitpunkt kam, desto mehr war er Bräus Meinung. Die Anzeichen für Probleme mehrten sich, aber der Termin stand fest, daran war nicht zu rütteln.

      Thalhammer konnte es kaum erwarten, bis es endlich losging. Mit diesem genialen Coup hätte er für den Rest des Lebens ausgesorgt, da durfte einfach nichts schiefgehen.

      2.

      Tamino Steinmaier war die andere Person, die Thalhammer ausgewählt hatte. Der 47-jährige, hagere Mann mit dem schütteren Haar arbeitete als Tontechniker am Staatstheater München. Er war nur einer unter vielen und hatte wegen seiner schüchternen, fast unterwürfigen Art keine Chance, sich gegen andere durchzusetzen. Er war einer derjenigen, die von niemandem beachtet wurden. Er erschrak, als er letzte Woche an seiner Bushaltestelle in Schwindegg angesprochen wurde, als er wie immer eine Zigarette rauchte, bevor er nach Hause ging. Tamino lebte mit seiner 74-jährigen Mutter in seinem Elternhaus und sie mochte es nicht, wenn er im Haus oder vor ihr rauchte. Er hasste seine Mutter für ihre autoritäre, gehässige Art. Aber was sollte er tun? Sie war nun mal seine Mutter und außer ihr hatte er niemanden anderen. Er und der Fremde waren allein an der Bushaltestelle. Der Wind war eisig kalt, trotzdem genoss Tamino jeden einzelnen Zug seiner Zigarette.

      „Tamino Steinmaier?“ sagte der Fremde und Tamino erschrak. Wer war der Mann? Und woher kannte er seinen Namen?

      „Ja?“

      „Du liebst deine Mutter und möchtest nicht, dass ihr etwas zustößt?“

      „Was zum Teufel…“

      „Halt den Mund und hör mir gut zu.“ Daniel Thalhammer war sehr viel größer und stärker als der kleine, schmächtige Tamino. Thalhammer baute sich vor ihm auf und Tamino pinkelte sich vor Angst fast in die Hose. „Du wirst für mich einen kleinen Kurierdienst übernehmen. Du bekommst an der Bushaltestelle bei deiner Arbeitsstelle in München einen Umschlag überreicht, den du dann beim Umsteigen in Holzkirchen einer Frau übergibst. Das ist die Frau,“ er übergab ihm ein Foto von Jenny Löffler. „Präg dir das Gesicht gut ein. Erledigst du deine Aufgabe zu meiner vollsten Zufriedenheit, ist alles in Ordnung und du hast dir ein ordentliches Taschengeld verdient, womit du im Kolibri mehrere Abende verbringen kannst. Machst du Probleme, gehst zur Polizei oder sprichst mit jemandem darüber, kann ich nicht für die Gesundheit deiner Mutter garantieren. Hast du mich verstanden?“

      Tamino hörte entsetzt zu und zitterte am ganzen Körper. Als der Fremde die letzte Drohung aussprach, verbrannte er sich die Finger an der Zigarette, ohne es zu bemerken.

      „Hast du mich verstanden?“

      „Ja.“

      Der Fremde war verschwunden und Tamino stand allein an der Bushaltestelle. Er starrte auf das Gesicht auf dem Foto: Er hatte diese Frau noch nie gesehen. Er war im Begriff, sich eine weitere Zigarette anzuzünden, verzichtete aber darauf. Mutti! Sie war in Gefahr und das konnte er nicht zulassen, er fühlte sich für sie verantwortlich. Er rannte los und stürmte in das alte Haus im Ortskern von Schwindegg.

      „Wage es ja nicht, mit deinen Schuhen ins Haus zu kommen!“ hörte er die vertraute Stimme seiner Mutter und beruhigte sich sofort. Wenn sie so keifen konnte, war sie wohlauf. Er zog die Schuhe aus und ging ins Wohnzimmer. Seine Mutter saß wie so oft vor dem Fernseher, in dem eine ihrer vielen Daily Soaps lief. „Du stinkst! Hast du schon wieder geraucht? Wie oft habe ich dir gesagt, dass ich das nicht mag?“ Sie schimpfte weiter und machte ihm einen Vorwurf nach dem anderen, ohne ihn dabei anzusehen. Dann gab es eine Werbepause und sie hatte jetzt Zeit, sich ihm zuzuwenden. „Wie siehst du denn aus? Man muss sich ja für dich schämen!“ Sie schimpfte weiter und weiter. Erst, als die Werbepause zu Ende war, wandte sie sich wieder dem Fernseher zu. Offensichtlich wurde es spannend. Sie vergaß ihre Schimpftirade und verstummte. Tamino hatte die ganze Zeit über nichts gesagt. Normalerweise regte er sich über seine Mutter und ihr Verhalten auf, aber heute nicht. Er lächelte, ging auf sie zu und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

      „Was soll das?“ zischte sie und wischte sich demonstrativ mit dem Ärmel ihrer Jacke über die Wange. „Dein Essen steht in der Küche. Und jetzt lass mich allein, sonst verpasse ich meine Sendung.“

      Tamino ging in die Küche und nahm den Teller aus dem Backofen. Wie immer hatte seine Mutter gekocht und das Essen auf Temperatur gehalten. Seine Mutter kochte für ihr Leben gern, die beiden Gefriertruhen im Keller waren immer randvoll. Eigentlich hatte er nach der Begegnung an der Bushaltestelle keinen Appetit, aber seine Mutter würde es nicht dulden, dass er das Essen nicht bis auf den letzten Krümel aufaß. Lustlos stocherte er darin herum. Was wollte der Mann von ihm? Er bekam in München einen Umschlag, den er an eine Fremde beim Umsteigen in Holzkirchen übergeben soll. An und für sich war das nichts Großes. Um was ging es dabei? Der Mann würde das Ganze nicht so kompliziert machen, wenn es nicht ungesetzlich wäre. Machte er sich nicht damit sogar strafbar? Aber was sollte er tun? Er musste das Leben seiner Mutter schützen, auch wenn sie heute wieder besonders ätzend war. Sie hatte sich wie so oft über den Verlauf ihrer Sendung aufgeregt und kam mit ihrem Gehstock zu ihm in die Küche. Die anfängliche Schimpftirade wurde hier fortgeführt und Tamino ließ sie über sich ergehen. Was sollte er auch sonst tun? Ihr zu widersprechen würde die Lage nur verschärfen. Seine Mutter hatte Schmerzen und war den ganzen Tag allein. War es da nicht auch verständlich, dass sie mit jemandem reden musste? Trotz seinem Verständnis und dem Vorkommnis bei der Bushaltestellte fiel es ihm heute besonders schwer, seine Mutter irgendwie zu mögen. Nach den üblichen Beschimpfungen und Vorwürfen schimpfte sie nun über seinen toten Vater, an dem sie nie ein gutes Haar ließ. Tamino zwang sich dazu, irgendwann nicht mehr zuzuhören. Er dachte an das, was der Mann vorhin zu ihm sagte. Sprach er nicht auch von einer Bezahlung, mit der er sich im Kolibri mehrere Tage vergnügen könnte? Die Bezahlung konnte nicht gering sein, die Sache würde sich auf jeden Fall finanziell lohnen. Je länger er darüber nachdachte, desto weniger Bedenken hatte er. Was sollte schon passieren? Wenn er aufflog, würde er der Polizei die Wahrheit sagen. Sollten die ihm doch das Gegenteil beweisen! Die anfängliche Angst war verflogen und er fühlte sich auf seltsame Weise lebendig. Endlich passierte etwas Positives in seinem langweiligen, eintönigen Leben. Freute er sich etwa auf das, was ihn erwartete? Seine Mutter bemerkte die Veränderung im Gesicht ihres Sohnes, was sie nur noch wütender machte. Sie wurde lauter und die Vorwürfe wurden heftiger. Sie gab erst auf, als sie erschöpft war. Sie setzte sich wieder in ihren Sessel und nahm die Fernbedienung in die Hand. Pünktlich fing eine ihrer Sendungen an. Tamino war sprachlos. Wie machte sie das nur immer? Egal, wie schlecht sie drauf war und was sie ihm alles um die Ohren warf: Ihre Sendungen verpasste sie nie.

      Tamino war endlich allein und spülte den Teller ab. Er war wie immer stolz auf sich, dass er geduldig war und sich beherrscht hatte, was ihm immer schwerer fiel. Wurde sein Nervenkostüm dünner oder wurde seine Mutter fieser?

      Er ging in sein Zimmer. Er besah sich das Gesicht auf dem Foto eindringlich und kannte es rasch auswendig. Bereits am nächsten Tag hielt er auf der Heimfahrt Ausschau nach der Frau. Da stand sie! Auf der gegenüberliegenden Seite wartete sie auf die Linie 12. Stieg auch sie hier um oder stieg sie zu? Das hatte ihn nicht zu interessieren. Er beobachtete die Frau, die etwas abseits von den anderen stand. Die Frau war nicht sein Typ. Sehr in sich gekehrt und mausgrau, das mochte er an Frauen überhaupt nicht. Jeden dritten Monat gönnte er sich einen Bordell-Besuch im Kolibri im Herzen Münchens, wo er ein anderer Mann sein konnte. Mit seinem sauer verdienten Geld warf er an diesem Tag um sich. Es war für ihn immer noch erstaunlich, was man mit Geld alles kaufen und erreichen konnte. Seine Mutter wusste natürlich nichts davon, die würde ausflippen. Niemand wusste davon, das war sein kleines Geheimnis und das Highlight seines Lebens. Er sparte für diesen einen Abend jeden Cent und genoss bei seinen Bordellbesuchen jede Minute. Seiner Mutter erzählte er immer, dass er