Daniela Christine Geissler

Fluch aus vergangenen Tagen


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Er verstand das alles nicht. Eine grelle Lichtgestalt winkte ihm zu. Endlich nahm jemand Notiz von ihm. Er folgte der lichten Gestalt in den Operationssaal zurück. Die Ärzte kämpften um das Leben des kleinen Körpers und er stellte fest, dass es sein Körper war. Richard verstand nicht, was hier geschah. Was mit ihm geschah. Er schien von sich selbst getrennt zu sein und es war ihm, als ob es ihn zweimal geben würde. Unten und oben. Eine sonderbare Ambivalenz ergriff seine Seele. Seine Seele wollte mit der Lichtgestalt gehen, doch diese drückte ihn immerfort in die Richtung seines Körpers, der unten lag. Er konnte dem Willen dieser Lichtgestalt nicht widerstehen und fiel langsam hinab. Sogleich hellten sich die Gesichter wieder auf.

      „Wir haben ihn wieder!“ Mit diesem Satz wurde er in eine enge Dunkelheit gesogen.

      Mr. Nelligan saß am Krankenbett, hielt die kleine Hand seines Sohnes, während seine Mutter ihren Rosenkranz betete. Richard erwachte und flüsterte selig

      „Es war schön, Pa, es war so schön!“

      „Ja, ja, ruh dich aus.“, sprach er und fuhr ihm zärtlich über die Stirn. Aufgeregt erzählte er seinen Eltern, was er erlebt hatte, aber sie ignorierten seine Geschichte.

      Oftmals versuchte er seiner Umwelt das Erlebnis näher zu bringen, doch nach wiederholten Spötteleien, sprach er mit keinem Menschen mehr darüber.

      Erst viele Jahre später wurde ihm die Tragweite seines sonderbaren Erlebnisses bewusst und die Schuld aus einstigen Tagen, sollte seine Seele zur Läuterung aus dem irdischen Karussell führen, um Erlösung aus längst vergangenen Zeiten zu finden.

      Kapitel 2

      Philadelphia, Frühherbst 1975

      Väterlich legte er seine Hand auf ihre schmale Schulter “Bist du soweit?“

      Aufgeregt, als würde man sie zu ihrer Hochzeit bringen, antwortete sie feierlich „Ja, wir können gehen.“

      Dabei wandte sie sich zur halb geschwungenen, weißen Wendeltreppe um und betrachtete das Ölgemälde an der Wand, das sie als Kind darstellte. Ruth erinnerte sich daran, wie er sie damals zärtlich ermahnte „Steh ruhig! Ich kann dich nicht malen, wenn du ständig von einem Fuß auf den anderen hüpfst.“ Ihre Kindheit war eine Zeit voller Wehmut und Sehnsucht. Nur die Gegenwart von Onkel Richard konnte jene trüben Tage mit ein wenig Freude füllen. Alle liebten ihn.

      Als würde man ein Lamm zur Schlachtbank führen. Welch eine Vergeudung an Jugend, an Schönheit, an das Leben überhaupt, quälte er sich. Er hatte das Bedürfnis Ruth zu schütteln, bis sie endlich zur Vernunft kommt, um aus diesem Albtraum zu erwachen. Als Richard jedoch in ihr verklärtes Gesicht sah, fürchtete er, dass es keinen Sinn hatte. Die Welt hatte ein liebliches Geschöpf weniger.

      Dabei hatte er wirklich alles versucht, um ihr das Leben danach - nach dem schrecklichen Unfall - erträglich zu machen. Ihre Freundinnen beneideten sie um ihren Onkel und schmolzen dahin, wenn er einer von ihnen sein charmantes Lächeln schenkte. Er war der Liebling der Frauen, ein Don Juan, ein Casanova und noch vieles mehr.

      „Mach nicht so ein Gesicht, Richard! Ich gehe zum Herrn, nicht zu meiner Beerdigung.“, scherzte sie. Sein Hals brannte, er fühlte sich als Versager. Üblicherweise hatte er auf Frauen einen gewissen Einfluss, dem sich diese kaum entziehen konnten, doch Ruth entglitt ihm wie eine Wachsfigur, die unter seiner Fürsorge schmolz.

      Vor einigen Jahren verlor die Familie Nelligan bei einer Europareise durch einen Autounfall ihren Sohn Phil, die Schwiegertochter Janet und fast auch Ruth. Doch die Ärzte schafften das Unmögliche, besser ausgedrückt, Richard schaffte es.

      Toskana, 1966, zwei Uhr nachts:

      Richard schreckte im Schlaf, von einem bösen Traum wachgerüttelt, auf. In den letzten Tagen schon, überfiel ihn immer wieder eine seltsame Furcht. Er spürte, wenn ein Unglück nahte - er fühlte es mit seinem ganzen Körper.

      Es war, als ob jemand die Zeit still stehen ließe und er darin gefangen war. In solchen Momenten konnte er nur abwarten. Er hatte eine Gabe, er war fähig Schicksalsschläge vorher zu sehen, aber es war ihm nicht möglich, diese abzuwenden. Richard richtete sich im Bett auf und sah den Wagen vor seinem inneren Auge den regennassen Asphalt entlang fahren. Er sah die Kurve bildlich vor sich und das verzerrte Gesicht von Phil und er wusste, dass es gerade jetzt passierte. Das Auto krachte seitlich durch die Planken und überschlug sich die Böschung hinunter. Phil und Janet waren sofort tot. Es ging alles rasend schnell. Richard bangte um das Kind. Mit seinem Geist hüllte er seine Nichte ein und drückte sie in den Sitz, bis seine Hände weiß waren. Schweißgebadet von dieser Horrorvision fiel er erschöpft ins Kissen zurück. Jetzt konnte er nur mehr auf den Anruf warten, wenn man ihm den Tod seines Bruders mitteilte. Morgens um sieben Uhr erhielt er jenen Anruf, der von diesem Tag an, das Leben der Familie Nelligan veränderte. Er nahm Ruth ihre Eltern und machte seinen Vater zum Trinker. Wie das Kind den Unfall überleben konnte, war den Experten ein Rätsel. Das Auto war ein einziger Schrotthaufen. Ruths Verletzungen waren äußerst ernst, aber nicht lebensbedrohlich.

      Der Oberarzt der Pädiatrie meinte, dass es eine schwere Zeit für Ruth werden würde.

      Richard, damals zweiunddreißig Jahre alt, versuchte danach alles Mögliche, um seiner neunjährigen Nichte das Trauma ihrer Kindheit zu verscheuchen.

      Grenoble, Frühherbst 1975

      Richard machte sich Vorwürfe, vielleicht hätte er länger bei ihr bleiben sollen. Er fühlte, dass er den Kampf verloren hatte. Er hatte es nicht geschafft sie ins Leben zurückzuholen. Genauso gut hätte sie damals sterben können, dachte er betrübt und betrachtete ihr immer noch kindliches Profil.

      Nachdem sie am Internationalen Flughafen in Grenoble angekommen waren, nahmen sie sich ein Taxi. Nach einer kurvenreichen Fahrt durch die Alpen hielt der Wagen vor dem Kloster. Der weiße Kies knirschte unter den Reifen, als der Fahrer den Wagen vor das monumentale Gebäude lenkte, das sich bedrohlich gegen den Himmel reckte. Hol sie endlich! Du willst sie, weil ich sie dir damals nicht geben wollte und jetzt, da hast du sie, und nun mach sie glücklich, haderte sein Innerstes mit Gott. Eine schwarz gekleidete Gestalt näherte sich, um das große, eiserne Tor zu öffnen.

      Richard registrierte eher ein Schweben, als ein Schreiten. "Wohl zu stolz zum Gehen, was? Diese Leute müssen sich einher schwingen, um sich selbst und anderen als würdig zu erweisen. Einfach lächerlich dieses Getue.“, murmelte er vor sich hin. Ruths Gedanken hingen an ihrem zukünftigen Lebensabschnitt und sie nahm nur undeutlich am Rande, die Worte ihres Onkels wahr „Was hast du gesagt, Richard?“

      „Ach, nichts! Sie kommen um dich zu holen.“, murmelte er weiter und starrte trotzig zum Kloster. Abzuholen in ein Irrenhaus, dachte er den Satz zu Ende.

      Bevor er die Wagentür öffnen konnte, lugte die schwarze Gestalt bereits ins Wageninnere. Richard stöhnte bei dem Anblick dieser Kleidung und rätselte, warum diese Leute sich so seltsam kleiden mussten. Er hielt nichts vom Glauben der Religionen und deren Einheitskleidung verglich er mit dem Gewand von Sträflingen. Einige katholische Männerorden kleideten ihre Mönche in diese braunen, groben Gewänder. Darin erweckten sie den Eindruck riesiger Ratten und die Nonnen mit ihren Häubchen glichen flatternden Fledermäusen, fand er. Außerdem war die Katholische Kirche für ihn ein Verein von Genussverächter und er konnte sich nicht damit abfinden, seine Nichte dort zu lassen. Ein Haufen von Narren, die meinten, dass Gott ihnen für dieses Kasperltheater der Verkleidung, am Tag des Letzten Gerichts den goldenen Teller vor die Nase stellen würde. Ihm schwindelte bei dem Gedanken, dass seine Nichte ihr weiteres Leben, bei diesen schrägen Frauen verbringen sollte, die seiner Meinung nach, vom Wahnsinn keine zwei Schritte entfernt waren. Zwei weitere Gestalten, ebenfalls so gekleidet, kamen zu ihnen und führten sie ins Kloster. Für Richard, der als Maler, alles Schöne liebte, war dies eine geschmacklose Fantasieentgleisung und dachte: Wenigstens laufen sie nicht frei herum und sind auf die grandiose Idee gekommen, sich selbst einzusperren. Die Schwestern würdigten Richard kaum eines Blickes, nur ein spartanisches „Grüß Gott!“, gaben sie von sich, wenn sein Blick sie streifte. Er fühlte sich sichtlich unwohl.