Günter Tolar

Der Herzog


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Joseph Moritz auf der Straße landete, wenn er den Herzog verließ. Wir kennen aber überhaupt nicht den Weg, den er innerhalb der Hofburg genommen hat. Er wird wohl immer ein Geheimnis bleiben, blieb er doch auch dem Erzieher, den Lehrern, ja sogar Metternich und seinem Wachapparat verborgen. Nicht einmal ein historisch wirklich gebildeter und gut informierter Museumsführer war in der Lage, diesen Geheimweg zu rekonstruieren.

      Ich war um einige Minuten später als sonst in Franzens Gemächer geeilt. Der *** war nicht zur Minute da. Franz war zutiefst beunruhigt.

      Wer dieser *** ist, erfahren wir noch, wer allerdings dahinter verborgen ist, erfahren wie von Joseph Moritz selber nie. Wir können es aber ahnen. Doch davon später.

      „Wenn sie dich erwischen, dann...“

      „... Gnade uns Gott“, vollendete ich.

      „Gnade dir Gott“, wies er mit dem Finger auf mich, mit tiefer Unruhe und bleichem Antlitz.

      „Aber wer weiß“, und er hielt inne, nachdenklich vor sich hinschauend, „ein dichtes Netz kann auch schützen.“

      Dieser zusammenfassende Einblick in das Tagebuch des Joseph Moritz von Dietrichstein sollte uns ein wenig die Methodik zeigen. Die Vertiefung folgt erst, wenn wir chronologisch vorgehen.

      KAPITEL 2

      Joseph Moritz wurde aus beruflichen Gründen oft auf Reisen geschickt. Die wirtschaftliche Expansion drängte nach Süden, sehr zum Gefallen des Joseph Moritz, der viel lieber nach Süden als nach Norden reiste. Wenn ihn eine Reise gar noch in ein Land führte, in dem Kunst zu sehen war, war die Unannehmlichkeit der langwierigen Anreise und der oft sehr langweiligen Handelsgespräche mehr als aufgehoben.

      Am schönsten ist die Kunst dort, wo sie gemacht wird. Und am allerschönsten ist sie, wenn sie so beschaffen ist, daß sie nur dort und nirgends anders gemacht werden kann.

      Joseph Moritz führte selbstverständlich auch auf diesen Reisen sein Tagebuch.

      So stand ich auf der Piazza della Signoria vor dem Palazzo Vecchio in Florenz. Die vielen schönen Menschen. Die vielen schönen Statuen. Nackt. Hier denke ich innig an dich, Franz, der du dies hoffentlich niemals lesen wirst. Ich halte Zwiesprache mit dir angesichts der vielen Schönheit, die sich hier so unverhüllt zeigt. Freiheit, die nichts Wildes, nichts Ungezogenes und nichts Verbotenes hat. Freiheit, die so herrlich erlaubt ist. Die Freiheit, die wir beide, Franz, nicht haben.

      Ich erröte bei dem Gedanken, daß du dies jemals lesen würdest.

      Und doch...

      Der Herzog wusste allerdings von der Existenz dieses Tagebuches.

      Im Spätherbst 1829 finden wir eine Notiz, die das bestätigt.

      „Joseph Moritz“, mahnte mich der Franz heute - er nennt mich immer beim ganzen Namen, wenn er besonders scherzhaft oder besonders ernst sein will - „du hast die letzte Zeit wohl mehr mit deinem Tagebuch gesprochen als mit mir.“

      Dieses Gespräch fand statt zu einer Zeit, in der der Kontakt zwischen den Beiden abgerissen und eben wieder in Gang gekommen war.

      Ich bin erschrocken.

      „Woher weißt du?“, fragte ich.

      „Du selbst hast es mir erzählt“, lächelte er und strich mir mein Haar aus der Stirn, das ich französisch nach vorne trug.

      „Wann habe ich dir das erzählt?“

      Ich kann mich wirklich nicht erinnern.

      Er aber lachte jetzt fast: „Soeben hast du es mir erzählt. Du hast mir nicht widersprochen!“

      Die Röte schoß mir ins Gesicht, ich stieß ihn weg von mir. Er aber zog mich wieder zu sich heran, drückte mein ihm zugewandtes Ohr fest an seinen Mund und flüsterte: „Du bist der Mensch für ein Tagebuch. Du hast zu viele Gedanken, die man nicht aussprechen kann und zu viele Geschichten, die du niemand erzählen kannst. Habe ich recht?“

      Anstelle einer Antwort drückte ich ihn so fest an mich, daß mein Herz zerspringen wollte vor lauter Klopfen. Aber ich wußte schon, es wird nicht zerspringen, nicht wenn es vor Freude klopft.

      Im Kommenden finden wir sehr überraschend die Situation geschildert, in der sich die Beiden bei dem Gespräch befanden.

      Mit einmal aber löste sich der Franz von mir, verließ unser Lager, wandte sich, kaum draußen, zu mir um und antwortet meinem wohl staunenden Blick: „Man muß aufhören können. Eine Tugend, die mein Vater nicht hatte.“

      Schnell und geübt im Ankleiden war er sogleich wieder ganz Herzog im Privatgemach.

      So blieb mir die beschämende Rolle, mich vor dem Franz nun meinerseits zu restaurieren. Er sah mir dabei so frech lachend zu, daß ich mich abwenden mußte, um nicht vor Scham zu vergehen. Wenn ich mich nach meinen Beinkleidern bücken mußte, wurde mein Ansatz zu einem Bäuchlein allzu deutlich sichtbar. Ich wendete mich also genau so weit ab, bis ich die Sicherheit wähnte, daß er meinen wunden Punkt jetzt nicht mehr sähe.

      „Auch schön“, klang es da hinter mir mit höchst vergnügter Stimme.

      Ich blickte hinter mich und sah eben noch, wie der Herzog von Reichstadt meinem Hinteren eine Grimasse zuschnitt.

      Joseph Moritz hat mehrmals in seinem Tagebuch gebeten, ihn durch die Preisgabe, also Veröffentlichung, allzu intimer Details nicht bloßzustellen. Es wird da immer wieder die Doppelseitigkeit von Joseph Moritz‘ innerer Einstellung zu seinen Notizen sichtbar. Einerseits ist das Tagebuch für niemandes Lektüre bestimmt. Andrerseits drängt es den Verfasser, sich so mitzuteilen, dass ein anderer ihn versteht. Und wer anders sollte das denn sein, als ein späterer Leser?

      Der Franz aber, der ‚dies nie lesen‘ würde, bekam in Florenz einiges ‚mitgeteilt‘, voll aus dem sicheren Wissen heraus, dass er dies wirklich nie lesen würde. Er war auch so, er hat dieses Tagebuch nie gelesen. Zu viel Tod auf einmal verhinderte dies.

      Wir sind noch immer in Florenz.

      Ich kann ja sein, wo ich will, überall bist du mir gegenwärtig. Alles, was ich denke, denke ich durch deine Gedanken hindurch. So dachte ich an dich, Franz, beim Anblick des wunderschönen David, den Michelangelo vielleicht auch nach einem Vorbild gestaltet hat. Nach einem lebenden Vorbild, meine ich. Ich bin aber der festen Überzeugung, daß es ein so schönes Vorbild gar nicht gibt. Ein lebendes. Auch nicht gegeben hat. Das Gesicht vielleicht. Ich möchte damit nicht sagen, daß Davids Gesicht nicht schön sei, aber es hat so etwas Unheroisches, Privates, so gar nicht Nacktes. Da schaut einer, die Stirne runzelnd, auf den wunderschönen, schon fertigen nackten Körper einer Statue, deren Kopf noch nicht herausgehauen ist, und fragt: „Da soll mein Kopf drauf? Na schön!“

      Michelangelo hat genau den Augenblick festgehalten, festgemeisselt und auf Davids Körper gesetzt. Das Kunstwerk, das genau den Abstand in sich birgt, der sich in einer Frage ausdrückt: „Mein Kopf auf diesen herrlichen Körper? Na schön!“

      Anmaßung und Resignation.

      Es sind ja deine Worte, Franz, die David da zu mir spricht. Und du bist es auch, der da vor mir steht. Nicht leiblich und auch nicht in Marmor, sondern dem ganzen Wesen nach. Die Vollendung, der Zweifel, die Ironie, der Humor, das Lächeln, die Gleichgültigkeit der Nacktheit... und alles in und aus meiner Liebe zu dir.

      Anlässlich eines gemeinsamen Museumsbesuches hat Joseph Moritz dem Herzog von diesen seinen Empfindungen beim Anblick des David in Florenz erzählt. Es ist dies übrigens die einzige Erwähnung eines gemeinsamen kulturellen ‚Ausganges‘.

      Die Replik des Herzogs zeigt seine wesentlich weniger von Ästhetik getragene Einstellung der Kunst und dem in ihr Dargestellten gegenüber.

      ... Franz fügte dem von mir als Florentinische Empfindung vorsichtig geschilderten Gedankenbild seinen eigenen Anhang hinzu: „Stell dir vor, ich, nackt auf diesem Sockel, mit meiner Gestalt und meinem langen - du weißt schon - in Florenz. Ich weiß nicht, ob die Leute mehr oder weniger hinschauen würden.“

      Dann