Günter Tolar

Der Herzog


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hatte heute Zeit und Muße. Das Wetter war so, wie ich es am meisten verabscheue, es war ohne Farben, grau und überschattet von dem Geräusch, das ich hasse, dem Geräusch des Regens. So blätterte ich zum ersten Male in meinem Tagebuch. Ich fand mich selber in vergangenen Zeiten. Und wenn mir der Franz schon nicht persönlich seine Anwesenheit schenkt, so rief ich ihn mir wenigstens mit Hilfe meiner Notizen. Dabei komme ich nicht umhin, festzustellen, daß mein Tagebuch im Lauf der Zeit immer mehr zu einem Buch über den Franz wird. Über mich und den Franz; über den Franz und mich.

      Aber wie hat es angefangen? Das Tagebuch ist unvollständig, sind doch die Jahre, in denen ich noch kein Tagebuch führte, nicht enthalten, obwohl ich damals den Franz schon gekannt habe. Kurzum, ich habe mich heute entschlossen, diese Zeit nachzutragen, in meinen Erinnerungen zu kramen und mich an die Jahre mit Franz zu erinnern, als es dieses ‚Franzensbuch’ noch nicht gab.

      Der Schriftduktus zeigt uns eine Pause an, die Joseph Moritz eingelegt hat.

      Da sitze ich nun seit über einer Stunde mit gezückter Feder und weiß nicht, wo beginnen. Es ist mir nämlich nicht möglich, heute, nachher, so zu tun, als würde ich es damals schreiben, als ich es erlebte. Ich kann nicht so tun, als kennte ich den Franz noch nicht so wie heute. Ich kann nicht so tun, als wäre der Franz jetzt der kleine Bub, als den ich ihn kennengelernt habe. Ich kann nicht so tun. Ich, der Franz, wir beide, unser Leben war damals mit uns im Wachsen. Das IST nicht mehr, das WAR alles. Verstehst du das?

      Joseph Moritz ist hier zweifellos an die Grenzen dessen geraten, was er für Dichtung oder Dichtkunst hielt. Hier bemerken wir aber auch das völlig verstellte Bild, das er von sich selber hatte. Niemand hat damals von ihm verlangt, das, was er erlebt hat, wie Heutiges zu erzählen. Einfach niederzuschreiben, was er empfand, war dem Joseph Moritz offenbar zu wenig; das war nicht des Dichters Werk, zu empfinden und das zu notieren. Beim Dichter musste seiner Ansicht nach auch ein gewisses Maß an Umformung, an Verformung, an Neuformung stattfinden, ob sie nun passte, sich aufdrängte, sich so ergab - oder nicht. Und wenn sie sich schon nicht aufdrängte, weil sie halt nicht passte und sich daher auch nicht ergab, dann musste man den ‚Stoff’ eben zwingen. Und genau dieses ‚Zwingen’ meinte Joseph Moritz nicht zu vermögen. Er hätte lügen müssen. Er hätte das tun müssen, was allerdings viele Schriftsteller tun, die Selbsterlebtes einfach in eine so genannt überhöhte und damit künstlerische Form umgießen, und damit Kunst vorgaukeln, Dichtkunst vorgaukeln, indem sie lügen und Selbsterlebtes zum Einfall umbilden.

      So ergibt sich ein für Joseph Moritz trauriger Schluss: Er hätte nur die richtigen Gesprächspartner haben müssen; dann wäre er vielleicht kein Dichter, aber seiner selbst sicher geworden. Er hätte eben geschrieben, nicht als Dichter und nicht für eine Nachwelt, sondern einfach deshalb, weil es seine Art war, sich mitzuteilen, indem er es niederschrieb und beim Schreiben noch einmal durchdachte, noch einmal erlebte, nocheinmal durchlitt, sich noch einmal freute.

      ‚Verstehst du das?’, war die letzte Eintragung. An ihr knüpft Joseph Moritz nach einer Pause, die möglicherweise sogar ein paar Tage gedauert haben konnte, an.

      Wer sollte mich denn verstehen? Wen habe ich denn da angesprochen? Wen habe ich da angefleht? Meine Mutter? Mutter! Mein Respekt verbietet mir, mehr zu sagen. Meinen Vater? Mein Vater! Er ist schon nicht glücklich mit mir, wie er mich kennt. Lernte er gar noch die Winkel an mir kennen, die ich verheimlichen muß, was wäre denn gar dann?

      Ich muß mir einen anderen Platz zur Aufbewahrung meines Tagebuches suchen. Oder nicht alles schreiben. Aber ich schreibe sowieso nicht alles. Das, was ich schreibe, errettet mich vor dem Tode des inneren Erstickens. Oder vor einem anderen baldigen Tode.

      Einem Freund geben? Das Tagebuch. Einem Freund? Franz, ja, der hat Freunde. Freunde, denen er vertrauen könnte, daß er ihnen ein Tagebuch wie meines hier anvertrauen dürfte? Dem Franz sind viele treu. Treu ergeben. Stehen zu ihm, nein, sind ihm ergeben. Der Kaiser ist sein Freund, sein verläßlichster. Ihm kann ich zweifellos nicht mein Tagebuch zur Aufbewahrung übergeben. Kaiserin Karolina Augusta? Sie liebt den Franz, sagt auch heute noch ‚Fränzchen’ zu ihm. Sie ist die einzige, die sich ihm gegenüber Herzlichkeiten herausnehmen darf. Sie ist auch die einzige, deren Herzlichkeiten gegen den Franz mir keinen Stich ins Herz versetzen.

      Was tun?

      Ich möchte alles vom Franz erzählen, alles von früher, als ob er da säße. So säße, wie er sitzt, wenn wir allein sind: Den mageren Oberkörper etwas eingesunken, leicht nach vorne gebeugt, die langen Beine gegrätscht von sich gestreckt, mit dem linken Arm auf die Lehne des Sessels gestützt, die rechte Hand auf dem rechten Oberschenkel, knapp in der Beuge, ausruhend, mich aufmerksam betrachtend, beim Zuhören hin und wieder nickend und, wie so oft, nicht ganz bei der Sache.

      Dann frage ich ihn: „Franz, hörst du mir zu?“

      Und er antwortet so wunderbar lächelnd: „Jomo, es ist zu viel. Nicht nur, WAS du erzählst, ist schön, sondern auch, WIE du es erzählst.“

      Dann wird mir heiß, ich spüre mich erröten, er aber lächelt weiter: „Soll ich dir nun zuhören oder zuschauen? Bei dir kann ich nur eines!“

      Dann schließt er die Augen. Jetzt kann ich nicht mehr erzählen, denn wenn Franz die Augen schließt, ist er nicht mehr da. Also bitte ich ihn, die Augen zu öffnen. Er tut's und blickt so verschlafen, als wäre er eben aufgewacht. Aufgewacht nach einer Nacht. Es ist Morgen.

      Es ist Nachmittag. Ich beschreibe ihn mir, weil ich ihn nicht habe. Was weiß ich, was er tut?

      Joseph Moritz ist in Gedanken versunken. Dieses Grübeln, das ihn in den Jahren 1830 und 1831 immer wieder befiel, begann seinem Vater Sorgen zu machen. Schwermut, Neigung zum totalen Versinken, sich zeitweise selbst nicht finden, so erzählte es der Vater dem Doktor Johann Peter Franck. Franck behandelte sowohl den Herzog, als auch Metternichs Sohn Viktor. Auf Vaters Bitten untersuchte er Joseph Moritz einmal, stellte aber keine Krankheitssymptome fest. Damals musste man schon seine Lunge heraushusten, damit der Arzt einen nicht auf einen nicht vorhandenen Ausschlag behandelte, wie es der Doktor Malfatti so lange Zeit beim Herzog tat, bis Doktor Franck endlich die wahre Krankheit erkannte. Da war alles schon zu spät.

      „Ein romantisches Gemüt“, attestierte er dem Joseph Moritz. „Hang zu Schwärmerei, Anfälligkeit für mitteltiefe Melancholie“, das waren die näheren Erläuterungen. ‚Mitteltief’, das klang nicht nach Selbstmordgefahr. „Viel gehen in frischer Luft“, war die Therapieanweisung, die Franck dem Grafen Dietrichstein für seinen Sohn mitgab. Franck hat diese Diagnose sogar in seinem Patientenbuch festgehalten. Ein schräges Kreuz am Rande der Eintragung, mehr schon ein X, kennzeichnete den Fall Joseph Moritz von Dietrichstein als harmlos und erledigt.

      Heute ist der Franz auf Inspektion zu seinem Regiment gefahren.

      Das schreibt Joseph Moritz als einzige Eintragung eines Tages Ende Jänner 1831.

      Der Schrift nach folgt der nächste Satz um einiges später.

      Heute beginne ich, die Vor-Tagebuch-Zeit aufzuarbeiten. Ich habe Zeit. Der Franz ist bei seinen Kameraden. Ich bin ja kein Kamerad.

      KAPITEL 4

      Joseph Moritz wusste nicht, wo und wie er mit seinem Bericht „Was vorher war“ beginnen sollte. Er brauchte für seine Überlegungen sogar einige Tage lang. Das WAS und WIE hatte ihn ja schon in einer früheren Eintragung gequält. Je mehr er sich jedoch seinem Vorhaben zu nähern vermeinte, desto mehr Unsicherheiten tauchten ihm auf.

      Das Wochenende war kalt und klirrend. Wir gingen kaum aus dem Hause. Mein Vater, der auch in seinen Dienst gehen muß, wenn der Franz nicht da ist, schimpfte wie ein Rohrspatz, zumal sich Metternich noch kaum jemals um die Anwesenheit des Erziehungsstabes des Herzogs gekümmert hatte. Aber just gestern hat er vorbeischauen lassen, wie der Adjutant es ausgedrückt hatte.

      „Nicht der Herzog hat mit Ihnen zu studieren, sondern Sie alle haben in Permanenz den Herzog zu studieren!“, so ließ Metternich freilich ohne gegebenen Anlaß, wie ausdrücklich betont wurde, ausrichten.

      Mein Vater fluchte, wie ich ihn noch nie gehört habe.

      Unser Haus ist bei der strengen