Günter Tolar

Der Herzog


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halte inne, denn der Franz sinkt in die Erinnerung: „Maman Quiou, Toto, Chan-Chan, die lieben Frauen...“

      Ja, mein Vater hat oft genug gejammert, daß er dich von lauter Weibern übernommen hat, die dich verzogen und vergöttert haben.

      Joseph Moritz hält kurz inne, vielleicht erschrocken über das, was er dem Herzog da erzählt. Und wie er es erzählt.

      Das, Franz, war die Zeit, wie ich sie verlebte, als ich das Glück noch nicht hatte, dich zu kennen. Ich war in der Zeit allein. Allein sein, heißt für mich heute, ohne dich sein. Bevor ich dich kannte, war ich zwar allein. Aber nicht ohne dich. Mag sein, daß ich die Zeit daher mit anderen Augen sehe. Mit Augen, die noch ganz mir gehört haben.

      Joseph Moritz hat hier abgebrochen und am nächsten Tag weiter geschrieben.

      Ich habe das gestrige überflogen und bin verwundert über den klaren, rücksichtsfreien Blick, den ich auf die Ereignisse habe. Es ist so sicher gut, daß Franz dies nie lesen wird. Es ist auch sicher gut, daß ich jetzt mit meiner Erzählung von früher fertig bin und den freien Blick verliere, der wahrscheinlich ein inniges Zusammentreffen mit dem Franz unmöglich machen würde. Fünfzehn Jahre sind seit damals vergangen, seit seinem von mir vermeintlich gehören ‚Joseph Molitz’.

      Einen Tag habe ich Zeit, denn übermorgen soll er wieder kommen. Aber, stünde er jetzt plötzlich vor mir, ich würde von einer Sekunde auf die andere wieder in das Heute hineinfinden. In das Heute mit dem Franz.

      Jetzt muß ich mich schnell zurückhalten. Eben war ich noch froh, einen Tag Zeit zu haben, um geordnet zurückzufinden, jetzt denke ich schon in Sekunden.

      KAPITEL 5

      Im Jahr 1817 begann Joseph Moritz sein ‚tagtägliches’ Tagebuch zu führen. Als er es begann, war noch keineswegs festgeschrieben, dass es ein Buch über ihn, und den Herzog von Reichstadt würde. Die Beweggründe, warum er überhaupt begonnen hat, ein Tagebuch zu schreiben, erfahren wir in seinen ersten Eintragungen. Ihnen werden wir uns noch widmen, führen uns doch diese ersten Notizen mit großer Eindringlichkeit in die Problematik ein, in der sich Joseph Moritz offenbar vom Anfang seiner denkenden Existenz an befunden haben dürfte. Am 20.3.1801 geboren war er genau 10 Jahre älter als sein späterer Schicksalsmensch, der Herzog von Reichstadt. Er begann sein Tagebuch im Alter von 16 Jahren zu führen. Nach damaligen Entwicklungsphasen war er eher noch ein Kind, bestenfalls ein Jüngling. Körperlich befand er sich sicher schon tief in der Pubertät, geistig aber war er, solang nicht Mann, eben Kind. Geistig hat er alles in der Einschätzung gesehen, die einem sechzehnjährigen damals zukam. Die Tagebuchnotizen allerdings sagen aus, dass Joseph Moritz ein zutiefst empfindsamer und empfindlicher Bursche war; beileibe kein Kind mehr, das er zu sein und als das er nach Lebensjahren zu gelten hatte. Dass aber Joseph Moritz die Jahre davor schon sehr wach miterlebt hat, das wissen wir aus seinen Ergänzungen, die er dem Herzog in seinem Tagebuch, das dieser nie lesen sollte, erzählt hat. Jene Ergänzungen, die die Jahre von 1811, dem Geburtsjahr des Herzogs bis zum Beginn der regelmäßigen Eintragungen, betroffen haben.

      Im ersten Jahr der Tagebuchentstehung 1817 scheint Vater Dietrichstein seinen Sohn auch zum ersten Mal mit ins Theater genommen zu haben. Joseph Morìtz knüpft jedenfalls an ein Theaterereignis die Ursache der Einführung seines Tagebuches.

      1. Februar 1817

      Es ist dies übrigens eine der wenigen Daten, die Joseph Moritz in solcher Deutlichkeit vermerkt hat.

      Gestern waren wir im Theater an der Wien. ‚Die Ahnfrau’ von einem Franz Grillparzer erlebte ihre allererste Aufführung. Der Dichter nahm den Dank des Publikums nach der Vorstellung des Stückes selber entgegen; seine Erscheinung brachte einen allgemein günstigen Eindruck hervor; Grillparzer ist nicht gerade hübsch zu nennen, aber eine schlanke Gestalt von mehr als Mittelgröße, schöne blaue Augen, die über die blassen Züge den Ausdruck von Geistestiefe und Güte verbreiten und eine Fülle von dunkelblonden Locken machen ihn zu einer Erscheinung, die man gewiss nicht leicht vergisst.

      Nach dem Theater gab es im Garten der Karoline Pichler ein kleines Fest. Der Reichtum eines höchstgebildeten Geistes und eines edlen Gemüts zeigte sich deutlich in allem, was er tat und was er sprach. Mein Vater führte ein kurzes Gespräch mit dem Dichter, dessen Inhalt mich zutiefst beeindruckte, auch wenn ich jetzt nicht im Stande mich sehe, es wiederzugeben, war es doch zu schwer für mich, zu schwer.

      Der Direktor Schreyvogel jedenfalls bedeutete meinem Vater mit großem Ernst und erhobenem, komisch nach hinten gebogenem Zeigefinger: „Selten einer, wo sich die Mühe dermaßen gelohnt hat. Und es war weiß Gott mühevoll, Entstehung und Aufführung des Stückes zu bewerkstelligen!“

      Mein Vater sprach etwas vom „Adlerauge des Herrn Direktors, was Begabung betrifft“, was dem Direktor nur ein müdes Lächeln entlockte und den Seufzer: „Sag er das einmal unserer Theaterverwaltung!“

      Es bestand also schon damals eine Diskrepanz zwischen den Verwaltern eines Theaters und denen, die das Theater tatsächlich zu machen hatten.

      Viel bemerkenswerter in unserer Sache scheint es aber, dass der junge Joseph Moritz dem Stück selbst keine Zeile widmet, wohl aber dem Aussehen des Dichters, dessen äußere Erscheinung auf ihn deutlich mehr Eindruck gemacht hat, als ‚Die Ahnfrau’. Immerhin wird Grillparzer damit schlagartig berühmt. Schon ein Jahr später bringt er - diesmal am Burgtheater – ‚Sappho’ heraus, was ihm die Ernennung zum Hoftheaterdirektor auf fünf Jahre einbringt.

      Joseph Moritz aber erklärt uns schon am nächsten Tag, wofür mit dieser ersten Notiz gleichsam der Grundstein gelegt war.

      Ich habe das, was ich mir gestern auf mehreren Zetteln aufgeschrieben habe, heute in ein Heft übertragen. Ich wollte zuerst das eine oder das andere heute etwas anders exprimieren, habe aber dann doch alles so belassen, wie ich es gestern niedergeschrieben habe. Ich dachte für mich, daß es so, wie ich es gestern geschrieben habe und wie ich es heute lese, gestern eben so empfunden habe.

      Überdies hat es mir eine Freude gemacht, heute zu lesen, was ich gestern gedacht und empfunden habe. Und wenn ich es heute da und dort vielleicht etwas anders empfinde, nun gut, dann hat sich eben von gestern auf heute was geändert. Und wer weiß, wie es morgen sein wird, wenn ich morgen das von vorgestern und das von heute, also von gestern lese?

      Eine Zeitlang möchte ich das beobachten. Ist es doch das erste mal, daß ich eine Bewegung in mir und an mir sehe. Ein Weiterschreiten, ein Verändern. Das, wo ich hineinwachsen soll, ist ja schon vorgegeben, das haben andere schon bestimmt. Langeweile bedroht mich und meine Gedanken. Langeweile, die unsere Bestimmung zu sein scheint. Die wir jetzt sechzehn Jahre alt sind dürfen nur zuhören; kaum reden; nur wenn wir gefragt werden; und wenn wir gefragt werden, dann kommt es immer noch darauf an, was man gefragt wird; und wenn man Glück hat, dann kann man das, was man gefragt wird, auch beantworten; wenn man es aber nicht beantworten kann, dann wird einem mit einem milden Lächeln gedankt, das einem sagt: ‚Ich weiß, es ist zu früh, das Kind schon zu fragen!’ Und Scham und Zerknirschung macht sich in uns breit; Zerknirschung, die wohlwollend zur Kenntnis genommen wird. Zerknirschung ist überhaupt der beste Ausdruck, um ihn aufzusetzen, wenn man nicht gefragt werden will.

      Joseph Moritz schreibt hier von ‚wir’. So klingt es wie eine verdrängte Jugend-Revolte, wie ein Konsens mit Freunden, zumindest aber mit Gleichgesinnten; von solchen ist aber keine Rede. Er spricht nur von sich weiter, verliert auch jetzt das ‚wir’.

      Ich habe eine Pause gemacht im Schreiben. Mir geht der Gedanke aus. Mir reißt der Faden. Es drängt sich alles in die Feder. Es ist das Zwiegespräch, das ich nicht habe, das mich jetzt so zum Schreiben drängt.

      Wieder muss eine Pause gewesen sein, der Schriftduktus sagt es deutlich aus. Aber immer ist es noch derselbe Tag.

      Gewissenserforschung nennt es der Pfarrer. Genaues Nachdenken über sich selber. Ist es das, was ich hier tue? Habe ich den Weg zu meiner Wahrheit gefunden? Ist das alles wahr, was ich hier schreibe? Ist es nur jetzt wahr und morgen nicht mehr? Oder ist es immer wahr, wenn es einmal wahr war? Wer beantwortet mir die Fragen. Werden sie mir morgen beantwortet? Oder irgendwann einmal? Ich muß mir die Fragen merken, sonst kann ich einmal mit den