Günter Tolar

Der Herzog


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fällt mir aber ein, wie unser Kaiser, nachdem er den Frieden von Paris ausgehandelt hatte, am 16. Juni 1814 nach Wien zurückgekehrt ist.

      „Ich weiß“, stöhnt Franz leise, „da kann ich mich gerade noch erinnern, daß ich da auch herumstehen habe müssen!“

      Jetzt äußert er sich ganz aus der ihm zustehenden Sicht von oben her: „Was soll denn da Besond’res dran sein?“

      Joseph Moritz scheint durch diese Äußerung in Verwirrung zu geraten. Immerhin hat ihm das ganze Rückkehr-Zeremoniell offensichtlich sehr gut gefallen. Durch des Herzogs herablassendes Wesen fühlt er sich in die Reihe der Plebs versetz, der Leute, denen so Etwas halt gefällt!

      Was willst du? Ganz Wien hat aufgeatmet. Rund eineinhalb Jahrzehnte waren wir außenpolitisch und militärisch bedroht. Und jetzt schien endlich Ruhe, Beruhigung in Sicht. Was willst du? Einem Volk verwehren, daß es feiert? Der Kaiser wurde im Triumph empfangen.

      Jetzt kennt er kein Taktgefühl mehr dem Sohn des Mannes gegenüber, dessen Untergang ganz Wien feiert.

      Auf das Glacis vor dem Kärntnertor haben sie einen wunderschönen Triumphbogen hingestellt. Aber man hat es dem Kaiser auch angesehen, daß er was Gutes mitbringt. Seine dunklere, gesunde Gesichtsfarbe ist ihm gut angestanden. Meine Mutter stellte fest, daß die knappere, modisch wattierte Pariser Uniform seiner Gestalt eine Fülle und Eleganz gaben, die man sonst an ihm keineswegs gewohnt war. Und mein Vater stellte fest, daß - im Gegensatz zu seinem Äußeren - sein Wesen wohltuend gleichgeblieben sei: dieselbe Leutseligkeit, derselbe mit der tiefgefühlten Freude rückhaltende Ernst, dasselbe Gemisch von Würde und Bescheidenheit in seinen Zügen...

      Weit und breit keine Zwischenrede mehr vom Herzog. Joseph Moritz konnte ihn vergessen und berichten, wie es ihm und nur ihm ums Herz war. Und gleich wurde sein Stil freier und flüssiger, wenn er sich der immerwährenden Kontrolle des Herzogs entzogen hat.

      Und am Abend ist die ganze Stadt festlich beleuchtet. Ich erinnere mich da besonders an die Beleuchtung des Odescalchi’schen Palastes; er war überirdisch schön beleuchtet. Als würde er nicht fest gemauert auf dem Boden stehen, sondern schweben; nicht hoch, sondern gerade so, daß es den Boden nicht berührt und sich vielleicht gar schmutzig machen könnte.

      Ach Gott, ich weiß so viele Einzelheiten gar nicht mehr; eines jagte das andere. Den Kongress haben sie veranstaltet, wo sie das Chaos, das Napoleon hinterlassen hat, neu regeln wollten. Bälle hat es gegeben, Militärfeste und Militärparaden, eine wunderschöne Schlittenfahrt, wo sie alle aus der Stadt nach Schönbrunn hinaus gefahren sind. Mein Vater mußte damals mit und regte sich fürchterlich über die Verschwendung auf. Zurückgekommen ist er mit einem recht starken Schnupfen. Mutter hat damals zu ihm gesagt: „Siehst du, das kommt von der dauernden Schimpferei. Hättst dir lieber was Warmes angezogen!“

      Mein Vater antwortete nicht. Er antwortete meiner Mutter nie vor uns allen, wenn er ihr etwas Ernsthaftes zu sagen hatte. Und er hatte ihr sicherlich etwas Ernsthaftes zu sagen nach dieser respektlosen Bemerkung.

      Am 5. März, ich glaube, 1815 war es -

      „Ja“, sagt der Herzog.

      Ich erschrecke. Der Herzog. Ganz so sieht er mich jetzt an. Der Herzog. Nicht der Franz. Der Herzog. Der zutiefst getroffene Sohn Napoleons. Ja, kommt mir in den Sinn, du schaust eben der Geschichte in das Gesicht. Ich sehe nur die Geschichte, ich habe den Menschen dahinter vergessen.

      „Ja“, hat er gesagt.

      Also 1815. Er wird es wohl wissen: Am 5. März. Ich weiß es noch genau, weil mein Vater am selben Tag zürnend sagte: „Und ich soll der Erzieher von seinem Buben werden. Das hat sich wohl jetzt!“

      Am 1. März war nämlich Napoleon aus Elba zurückgekehrt. Alle waren sie durcheinander; auch der lustige Kongress ging nicht so recht weiter.

      Mein Vater aber sagte damals: „Hat auch sein Gutes, jetzt müssen sie wenigstens zusammenhalten, weil sie einen Feind haben, vor dem sie sich alle fürchten!“

      Aber dann kam ja gottlob bald Waterloo und der Spuk war endgültig vorbei.

      „Eine grandiose Schlacht“, sagt Franz leise.

      Für den, der Schlachten liebt, vielleicht ja. Ich erschrecke. Der Franz liebt Schlachten. Er muß Schlachten lieben. Er ist zum Staatenlenker erzogen. Ein Staatenlenker muß Kriege führen.

      Aber Joseph Moritz sieht seinem Franz offenbar nicht in die Augen. Selbsterlebtes ist eben nicht Geschichte. Für ihn ist Napoleon ein Feind. Und der Herzog ist sein Freund, dem er alles erzählt. Was schert den Joseph Moritz eine verloren gegangene Dynastie? So halten auch seine auftauchenden Bedenken nur ganz kurze Zeit, dann geht er in ungewohnter Konsequenz seiner selbst gestellten Aufgabe des Erzählens nach. Hätte er sich nur selbst zuschauen können, er wäre sicher stolz auf sich gewesen. So aber sieht er gar nichts. Nicht sich selbst und nicht den anderen in seiner armseligen Situation.

      Einer war übrigens damals sehr unglücklich; das war der Erzherzog Johann. Er hat sich nicht gerade Freunde gemacht, wie er verkündet hat: „Es ist ein jämmerlicher Handel mit Ländern und Menschen! Napoleon haben wir und seinem System geflucht, und mit Recht; er hat die Menschen herabgewürdigt, und eben jene Fürsten, die dagegen kämpfen, treten in seine Fußstapfen.“

      „Das hat er gesagt?“, fragt leise der Franz.

      Ich weiß, der Franz verehrt den Erzherzog sehr. Spricht manchmal mit ihm, ist angetan von seinen Ideen. Weiß nicht recht, der Franz, ob er auf seinem dynastischen Standpunkt bestehen soll, oder ob er rückhaltslos die Ideen des Erzherzogs für gut befinden soll. Rückhaltslos, das war es. Es ging nur rückhaltslos. Denn einen Kompromiss ließen die Ideen des Erzherzogs nicht zu.

      Ja, das hat er gesagt. Habt ihr darüber nie gesprochen? Der Graf de la Garde hat allerdings die wirkliche Situation des Kongresses viel deutlicher beschrieben; nie, meinte er, sind wichtigere Fragen inmitten so vieler Festlichkeiten verhandelt worden; auf einem Balle wurden Königreiche vergrößert oder zerstückelt, eine Verfassung auf der Jagd entworfen, und bisweilen brachte ein Bonmot, ein glücklicher Einfall einen Traktat zustande, den zahlreiche Konferenzen und geschäftiger Briefwechsel nur mit Mühe zum Abschluß hätte bringen können.

      „Wurde viel geschwätzt damals“, murmelt Franz, „von Schmeißfliegen. Man kennt das ja!“

      Schmeißfliegen, nun gut. Der Feldmarschall Fürst von Ligne hat zwar gesagt, daß der Kongreß nicht vom Fleck komme, er tanze.

      „Er hat aber auch gesagt“, wirft Franz belustigt ein, „daß jetzt nur noch das feierliche Begräbnis eines Feldmarschalles fehle. Er werde dafür sorgen...“

      Und ist selbst gestorben, ja. Der rosarote Prinz. Alles rosarot an ihm und um ihn herum, Kutschen, Livrees, Briefpapier, selbst sein Haus auf der Mölkerbastei samt den Stallungen, alles rosarot.

      „Was hast du gegen rosarot?“, fragt der Franz mit einer Anzüglichkeit, die mich ganz zu ihm herumwirft.

      Wie der Kongress dann aus war, ist ja auch die Frage deiner Erziehung geregelt worden. Genauso, wie es vor dem Zwischenspiel der Rückkehr deines Vaters beschlossen gewesen war: mein Vater wurde dein Erzieher. Und Ende Juni wurden wir einander vorgestellt. Ein etwas über vier Jahre alter Knabe, ein sogenanntes schönes Kind, das mit ‚Königliche Hoheit’ angesprochen werden mußte und vor dem wir alle die großen Complements machen mußten. Ich mit meinen vierzehn wohlerzogenen Jahren war eigentümlich berührt.

      „Joseph Moritz?“, hast du mit heller Stimme wiederholt, als mein Vater dir meinen Namen mitteilte. Und noch einmal hast du’s gesagt: „Joseph Moritz?“ Und mir kam vor, als hättest du gesagt: „Joseph Molitz?“ Als hättest du den Namen komisch empfunden.

      Und ich sagte einfach: „Ja.“

      Mein Vater verbesserte: „Königliche Hoheit!“

      Und ich setzte schnell nach: „Königliche Hoheit!“ Und bekam einen kleinen Stoß in den Rücken, weil ich mich retirieren sollte und mich dabei zu verbeugen hatte.

      Du aber, Franz, drehtest