Günter Tolar

Der Herzog


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möglich, wenn man sich dort gleich zu Bette begibt. So sind alle mißmutig und beäugen, mangels eigener Tätigkeit, jeder den anderen, wie auf der Suche nach Zerstreuung durch den anderen.

      Ich lese ein wenig von Collin. Nicht von Franzens Lehrer. Der dichtet zwar auch. Versucht es halt. Wie ich. Nein, ich lese von seinem Bruder, der - seiner Verbreitung nach - sehr wohl sich zum Berufstand der Dichter zählen darf. Aber ich weiß nicht, was ich da alles gelesen habe. Ich habe leere Worte, aneinandergereihte Buchstaben eingesogen. Und irgendwo im Gehirne verloren, noch bevor ich sie verstanden habe. Wie soll ich da einen Gedanken fassen? Und wenn ich einen fasse, wie ihn niederschreiben? Ich habe so meine Gedanken, gewiß. Aber sie verflüchtigen sich wieder. Wenn ich’s nicht niederschreibe, hält es nicht. Und mir erscheint es qualvoll, daß es sicherlich die besten Gedanken sind, die ich so nicht niederschreibe.

      Jetzt sitze ich in meinem Zimmer; es wird kalt und kälter. Ich werde gleich zu Bette gehen. Keiner der Gedanken des Tages ist da. Keiner zum Niederschreiben. So beschreibe ich meine Zeit ohne Gedanken. Vielleicht dann, wenn ich im Bette liege, wenn mein Körper auftaut und sich in jedem Glied füllt mit meinem Denken und Fühlen. An den Franz wohl. Ganz ohne Probleme. An den Franz. Nur schnell einschlafen.

      Klamm sind die Schriftzüge. Joseph Moritz ist schlafen gegangen. Die nächste Eintragung spricht vom nächsten Tag.

      Plötzlich hab’ ich’s: soll ich berichten ab der Zeit, in der der Franz lebt? Soll ich auch die Zeit vorher erzählen? Habe ich denn gelebt, bevor es den Franz gab? Doch, ich habe gelebt. Zehn Jahre lang. Und dann noch vier Jahre lang, bis ich den Franz zum ersten Male erblicken durfte. So werde ich dem Franz alles das erzählen, was ich seit seiner Geburt erlebt habe.

      Ich habe gesagt, ich hab’s. Ich weiß, WAS ich erzählen werde, und ich weiß, WEM ich es erzählen werde. Und da der Franz es nie lesen wird, ist jeder, der es einmal liest, der Franz. Also niemand.

      So beginne ich:

      Ich weiß noch, daß es Ende März des Jahres 1811 war, als wir erfuhren, daß am 20. März, morgens um neun Uhr und fünfzehn Minuten die Glocken von Notre Dame in Paris und die Glocken aller Kirchen der Stadt mit voller Stärke dröhnten. Ein Kanonenschuß zerriß die Luft. Alle wußten, einundzwanzig Schüsse würden die Geburt einer Tochter des Franzosenkaisers Napoleon und seiner Gemahlin Marie Luise verkünden. Erzherzogin Marie Luise, deiner Mutter, Franz, die ein Jahr zuvor in der Wiener Augustinerkirche per procura mit deinem Vater vermählt wurde. Fünf Tage nach dieser getrennten Hochzeit wurde Ihre Kaiserliche Hoheit an der österreichischen Grenze an Frankreich übergeben, um in das Ehebett Napoleons geführt zu werden.

      Franz schlägt die Hände vor das Gesicht. Ich weiß, die Nennung der Mutter verschafft ihm Pein. Denn mittlerweile, wenn ich dies niederschreibe, weiß er schon alles über sie. Und der Vater ist tot.

      „Franz, ich will dich nicht quälen. Franz!“

      Er löst langsam seine Hände vom Gesicht. Ich bin mir nicht sicher, ob er geweint hat. Schatten verhüllen eine genaue Sicht in sein Antlitz.

      „Sprich weiter“, sagt er fast ohne Ton.

      Alle in Paris, die jetzt die Kanonenschüsse zählen, wissen, wenn es über einundzwanzig hinausgeht, dann ist er geboren, der Thronfolger, der sofort mit seiner Geburt König von Rom wird. Nun Franz, es waren mehr als einundzwanzig Schüsse es waren die einhundertein Schüsse. Und sie galten dir. Deiner Geburt. Der Geburt des Königs von Rom. Sohn des geliebten Vaters, den er, so sagte er mir, persönlich nicht in seiner Erinnerung hat. Der König von Rom ist er nun auch nicht mehr.

      „Franz“, frage ich zögernd, „soll ich weitererzählen?“

      Franz ist blaß, aber er bittet fast: „Sprich weiter.“

      Dann erfaßt ihn ein Zorn, er schlägt mit der Faust auf die Lehne seines Sessels - man hört nichts, denn die Lehne ist gepolstert - und er zischt: „Sprich weiter. Erzähl mir vom Entstehen einer Leere.“

      „Einer Leere?“, frage ich erstaunt und nicht verstehend.

      „Meines Lebens“, sagt er so, als wollte er sich verbessern.

      Ich wollte nicht verstehen, weil ich gerade dabei war, mich in meine eigene Geschichte zu versenken, uns so vertiefte ich mich wieder in die Erinnerung.

      Es war das Jahr, in dem unsere Familie viel Geld verlor. Mein Vater schimpfte irgendwas von „unfähiger Finanzverwaltung“ und „da schmeißen sie das Geld hinaus für alles mögliche und wir dürfen zahlen“. Unsere Bankozettel, Geld aus bedrucktem Papier, waren immer wertloser geworden. In jenem Jahr mußten wir sie umtauschen gegen - ich glaube - Einlösungsscheine. Neues Papier, das keinen Wert hatte. Meine Mutter fragte damals ängstlich: „Aber unser Silber, das bleibt doch was wert, Herr Vater?“

      Der Vater zischte, blickte sich um, daß ihn nur ja niemand hörte, dann maßregelte er meine Mutter: „Geh’ sie doch gleich auf die Gass’n und erzähl’ sie’s einem jeden.“

      Erst später erfuhr ich, daß mein Vater das gleiche getan hatte, das viele damals taten. wenn sie’s hatten: er hatte Silbergeld gehortet, in einer Truhe im Keller.

      Nun, uns hat’s ja nicht so sehr getroffen, wir haben ja unsere Güter. Aber es soll viel Elend gegeben haben draußen, wo die Leute wohnen. Nicht nur, weil das Geld weniger geworden war, sondern weil für die, die kaufen mußten, auch noch alles teurer wurde.

      „Arme Leut‘“, sagte mein Vater, „an die denkt keiner!“

      Meine Mutter aber war nicht weiter unruhig: „Die Polizei paßt schon auf, daß uns nichts g’schieht! Gell?“

      „Die Polizei“, antwortete mein Vater, „das sind ja auch keine armen Leut’. Da schaut schon der Metternich drauf.“

      Vom Metternich war damals überhaupt viel die Rede.

      Ich hatte den Franz vergessen: „Verzeih’, ich will deinem Wohltäter nichts nachsagen. Aber laß’ mich dennoch, soweit es geht, bei der Wahrheit bleiben.“

      Franz staunt: „Meinst du, Jomo, ich erzähl’ ihm vielleicht was?“

      Ich bin verwirrt: „Ich weiß nicht. Mußt du nicht? Muß einer wie du nicht? Muß ich jetzt schweigen?“

      Der Franz lacht: „Ich will es nicht auf die Probe ankommen lassen, wer wem gegenüber was muß!“

      Ich fühle mich plötzlich ohne eigenen Willen. Ich brauche einen Befehl. Aus mir selber kommt keiner. Franz ist mir im Augenblick fremd. „Metternich oder ich“, das sind beinahe gotteslästerliche Reden.

      Jetzt seufzt er, blickt mich an, dreht sein Gesicht ganz aus dem Schatten heraus, und sagt herausfordernd: „Na?“

      Ich weiß plötzlich so vieles nicht. Wir haben im selben Jahr das „Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch“ bekommen. Aber es hat auch nichts genützt, als der Hornbostel, der Seidenfabrikant, den selbstwebenden Webstuhl erfunden und auch gleich in Betrieb genommen hat. Früher hat er für jeden Webstuhl einen Weber gebraucht, für Tag und Nacht also zwei. Jetzt treibt ein Schwungrad gleich acht Webstühle an und er braucht nur noch drei Leute für die acht Webstühle.

      Ja, und der Heinrich von Collin, der Dichter, der Bruder von deinem Lehrer Matthäus von Collin, der ist damals gestorben.

      Ein Schatten von Trauer zieht über Franzens Gesicht, denn auch der Matthäus von Collin, sein Lehrer, ist im November 1824 gestorben.

      Ich aber beschließe jetzt, die Schatten auf dem Franz nicht mehr zu berücksichtigen, indem ich jedesmal auf sie einzugehen versuchte.

      Ich vertiefte mich wieder in die Vergangenheit. Der Schikaneder ist gestorben, 1812 glaube ich. „Er hat alles verjuxt!“, spottete mein Vater. „Schulden machen und dann wahnsinnig werden“, das war sein Urteil über Schikaneders Leben.

      „Hat er wirklich so gedacht?“, fragt der Franz. „Ich möchte über meinen Erzieher nicht solches hören, wenn es nicht ganz exakt der Wahrheit entspricht, Jomo. Denk’ nach! Hat dein Vater das gesagt?“

      Es