Günter Tolar

Der Herzog


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aufschreiben’, das war die Devise der Joseph Moritz in den ersten Wochen nach der Geburt seines Tagebuches in peinlicher Genauigkeit folgte. Schon Mitte Februar, also etwa vierzehn Tage nach der Eröffnung seiner „Gewissenserforschung“ jubelt er:

      Endlich, endlich nicht mehr allein. Endlich einen Partner. Einen geduldigen, der mich anhört, bis ich zuende bin. Der mich versteht. Der mich Fehler machen läßt, ohne sie gleich zu ahnden. Oh, es ist nicht stumm, mein Buch. Es spricht zu mir indem es nicht widerspricht.

      ‚Widerspruch’ ist ihm ein Problem, das ihn beschäftigt.

      Alles an mir scheint Widerspruch hervorzurufen. Mein Vater findet alles an meiner Kleidung auszusetzen. Wenn ich es wage, dem Schneider ein paar Details anzugeben, die er an meiner Kleidung modischer machen könnte, dann fährt mein Vater dazwischen: „Soll man meinen Sohn an seinen Mäschelchen und Bändelchen erkennen?“

      Und er befiehlt, alles wieder abmachen zu lassen. Mein Schneider findet es schade und sein allerliebster Sohn, der exakt in meinem Alter ist, auch. Mein Vater hat heute dem Schneider verboten, mir französische Journale zu zeigen: „Dieses weichliche Geschmeiß bringt den Joseph Moritz nur auf Bändelchen und Mäschelchen!“

      Bändelchen und Mäschelchen, so spottet mein Vater meiner.

      Joseph Moritz hat also eine Neigung zu der stark verzierten, etwas zur Zierlichkeit neigenden, französischen Mode. Die Informationen darüber lieferte der Sohn des Schneiders, den wir schon als ‚allerliebst’ kennen gelernt haben und der gleich alt wie Joseph Moritz ist. Bleiben wir darum noch ein wenig beim Thema Schneider und Mode; es finden sich noch einige Sequenzen in Joseph Moritz' plauderndem Buch.

      Ein richtiger erster Aprillentag. Als ich eben beschlossen hatte, den Schneider aufzusuchen und mich für den Zu-Fuß-Weg entschieden hatte, da schien noch die Sonne. Als ich aber eben das Haus verlassen wollte, da regnete es schon wieder. Ich habe also anspannen lassen und wie wir auf die Herrengasse hinausfahren und eben in die Schauflergasse einbiegen, da sehe ich auf der anderen Straßenseite den Hans sich unterstellen.

      Dieser Hans ist der ‚allerliebste’ Sohn des Schneiders.

      Ich lasse also anhalten und winke ihm. Er eilt eilfertig herbei und erkennt mich erst in dem Augenblicke, in dem er gerade vor mir steht. Er reißt die Augen auf und höchste Verwirrung zeigt sich in seinem Gesichte, über das soeben die ersten, von seinem pitschnassen Hut überlaufenden Wassertropfen laufen, sodaß er einen Moment aussieht, als würde er weinen. Ich öffnete rasch den Schlag und sage: „Steig er schon ein, Hans. Oder will er ersaufen da draußen?“

      Er springt herein und bleibt gebückt stehen. Ich muß ihm erlauben, sich zu setzen. Er setzt sich neben mich auf die Bank, aber ganz vorne: „Daß ich nicht alles naß mach’!“, sagt er leise.

      Ich aber gebe ihm einen kräftigen Schubs, daß er nach hinten in die Polster kippt: „Ist noch nichts naß geworden, was nicht wieder trocken geworden wär’!“, lache ich. Er ist gegen mich geplumpst, lehnt jetzt an mir, starr und ängstlich und respektvoll.

      „Der Herr Graf sind sehr gütig“, sagt er leise.

      Ich aber bin höchst vergnügt: „Und was glaubt er, wo ich gerad’ hinfahr?“

      Er sieht mich unwissend an, wobei er sich vorsichtig aufrichtet und sich von mir loslöst.

      „Zu seinem Herrn Vater. Trifft sich das nicht gut?“

      „Da wollt’ ich eben auch hin, ja“, sagte der Hans leise und nickend.

      Sein Wams begann etwas zu dunsten, es riecht muffig. Es riecht nach feuchtem Stoff und feuchtem Körper. Schweiß, Achselschweiß, aufgewärmter, mischt sich auch dazu. Aufregend ist das so.

      „Es gibt wieder neue Journale“, sagt er. „Wenn der Herr Graf wünschen...“

      Selbstverständlich wünsche ich.

      Er fährt fort: „Die Margarethe hat eines angezeichnet, das wär’ was für den Herrn Grafen, hat sie gesagt!“

      „Die Margarethe?“, frage ich.

      „Ach“, antwortet er, „ich dachte, der Herr Graf wüßten. Das ist mein Mädel. Die Tochter von der einen Weißnäherin.“ Er lacht: „Die andere, die wär’ wohl schon zu alt für eine so junge Tochter!“

      Ab dem Moment finde ich sein Gered’ als Geplapper. Sechzehn Jahr’ alt und ein eigenes Mädel!

      An diesem Tag hat Joseph Moritz nicht mehr weiter geschrieben. Zu tief scheint der Ärger gesessen zu sein, dass dieser junge, unstandesgemäße, ‚allerliebste’ Bursche, der sich erlaubte, mit ihm gleich alt zu sein, sich ein eigenes Mädel leistete. Der Hans hat ihn aber noch ein paar Tage später weiter beschäftigt. Ebenso die Margarethe, Tochter der einen, der jüngeren, Weißnäherin.

      Ich weilte heute wieder beim Schneider. Der Hans zeigte mir einige wunderhübsche französische Modezeichnungen. Wunderhübsch. Eines davon wollte er mir unbedingt einreden. Es war genauso gestaltet, wie es mein Vater ‚Mäschchen und Rüschchen’ genannt hätte.

      Um mich vollends zu überzeugen, rief er aus: „Die Margarethe hat auch gesagt: das wär’ was für den Herrn Grafen!“

      Das war nun sicherlich nicht das Argument, mit dem Joseph Moritz unbedingt überzeugt werden wollte. Aus seiner niedergeschriebenen Antwort aber ist die plötzliche Kälte förmlich herauszuhören.

      „Die Margarethe, so?“, antwortete ich.

      Ich überlegte, was ich mit diesem Urteil wohl anfangen könne, da sprach er weiter: „Darf sie hereinkommen, dem Herren Grafen ihre Aufwartung machen?“

      „Wer?“, fragte ich verwundert.

      „Die Margarethe. Sie muß es dem Herren Grafen selber sagen.“

      „Was denn?“

      „Das mit diesem französischen Modell. Ich habe die Worte nicht. Darf sie, Herr Graf?“

      Der Hans blickte mich so lieb an. Dabei sah ich zum ersten mal, daß er aus der Nähe besehen mit seinen wunderschönen, kugelrunden braunen Augen ganz leicht schielte; aber nur, wenn unsere Gesichter einander ganz nahe waren. Und das waren sie jetzt, wie wir über die Zeichnungen gebeugt waren. Er flehte mich an, als ob ich ihm was Liebes tun möchte. Ich tat es also.

      „Soll sie kommen“, sagte ich jovial, „wenn ihr und ihm so viel daran liegt!“

      Der Hans rief sie herein. Sie war so schnell da, als ob sie schon hinter der Türe gelauert hätte. Sicher hat sie hinter der Tür gelauert nach Weiberart. Sie blieb unter der Türe stehen, machte einen Knicks und blickte den Hans verlegen an.

      „Nun komm sie schon her“, ermunterte ich sie.

      Sie kam näher und stellte sich mit gesenkten Augen rechts neben den Tisch, auf den der Hans und ich über den Zeichnungen hingelümmelt lehnten.

      Ich schob ihr die besagte Zeichnung hin und fragte sie: „Sie meint also, Mamsell Margarethe, daß mir das besonders gut stünde?“

      Als ich ihren Namen nannte, errötete sie; ihr Gesicht hatte jetzt das Aussehen eines, nein gleich zweier rotbäckiger Äpfel. Wie sie überhaupt fast nur aus Kugeln zu bestehen schien. Ihre Schultern, rund, wie Teile von Kugeln; ihre Brüste, rund, Vollkugeln; ihre Hüften, rund, wie große Kugelhälften. Alles weitere verdeckte der weite Rock, ließ aber ebenfalls allerhand Kugeliges darunter vermuten. Ich trat einen Schritt zurück, um sie ganz zu sehen. Sie hatte sich mittlerweile über die Zeichnung gebeugt, sodaß der lange Rock hinten etwas hochkam; und ich hätte es mir doch denken können: unter dem Rock lugten Kugelwaden hervor.

      Aber wir hatten ja die Zeichnung noch nicht begutachtet.

      „Also?“, ermunterte ich die Margarethe.

      „Ja“, begann sie zögernd, „Herr Graf“, wieder zögerte sie, „der Herr Graf hätt’ halt genau die Gestalt für sowas; die Grazie; den Adel; die Lustigkeit; die Gesichtsfarb’, alles, was man halt braucht, um sowas exzellent tragen