Daniela Zörner

Fürstin des Lichts


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      Das ist mein Fenster.

      Eben bin ich so sanft erwacht.

      Ich dachte, ich würde schweben.

      Bis wohin reicht mein Leben,

      und wo beginnt die Nacht?

      Rainer Maria Rilke

      Kapitel 1

      „Ich habe ja die Margarine vergessen!“ Darf eine Geschichte wirklich so banal beginnen? Wenn sie die reine Wahrheit erzählen soll, gibt es keine Gnade. Nochmals in die winterliche Eiseskälte hinaus zu müssen war Strafe für Schusseligkeit genug. Da drängte es sich mir geradezu auf, als kleine Belohnung einen Abstecher in Joschs Antiquariat dranzuhängen. Vielleicht wartete dort eine frische Ladung gebrauchter Bestseller, die für kleines Geld meinen ständigen Hunger nach gedruckten Schwarten stillen würden.

      Der Laden lag in einer kleinen Seitenstraße, wo die Mieten günstig und Kunden rar waren. Josch glänzte, wie so oft, durch Abwesenheit, weshalb neben der abgeschlossenen Kasse eine Blechbüchse stand. Zu meiner großen Enttäuschung standen keine neuen Stöberkisten auf dem Boden. Das Suchen in den bis unter die Decke vollgestopften Regalen hatte ich längst aufgegeben. Josch behauptete zwar, die Bücher seien logisch einsortiert, aber er vertrat auch sonst sehr spezielle Ansichten. Doch in diesem Moment vor die Wahl gestellt, entweder den Rückweg durch den frostigen Berliner Winter anzutreten oder im Warmen die Regale zu durchstöbern, fiel meine Entscheidung schnell. Entschlossen pfefferte ich meine Vermummung aus Mütze, Handschuhen, Schal und Daunenjacke auf die speckig braune Ledercouch. Langsam suchend drehte ich mich um die eigene Achse, seufzte resigniert und ließ mich erst einmal auf die Couch plumpsen. Mein Blick folgte den Bücherreihen an der gegenüber liegenden Wand nach oben. Unter der vergilbten Altbaudecke flatterten dunkelgraue Spinnweben in der aufsteigenden Wärme. „Was für Bücher stehen dort oben eigentlich? Da gelangt doch niemand je hin!

      Plötzlich erschien das Bild einer alten Bibliothek mit reich verzierten, glänzenden Holzregalen vor meinen Augen. Schmale Holzleitern rollten auf unsichtbaren Schienen leise an den Regalen entlang. „Okay, hier und jetzt wenig hilfreich.“ Aber eine Leiter musste Josch dennoch irgendwo haben.

      Sie stand, bekleckert mit diversen Farben, hinter dem Wandstück, das wohl irgendwann einmal von einem abgeteilten Hinterzimmer übrig geblieben war. Die Aluleiter wog zwar nicht sonderlich viel, hatte dafür aber die Größe XXL. Die unrühmliche Stelle, an der ich beinahe mit dem Hinterteil des Monstrums in ein Regal gekracht wäre, lasse ich hier lieber weg. Und natürlich wackelte die ausgeklappte Leiter auf den ausgetretenen Holzdielen, als ich vorsichtig mit dem Aufstieg begann. Argwöhnisch nahm ich zuerst mal die Spinnweben aus der Nähe unter die Lupe. Kein vielbeiniges Ekelpaket in Sicht. Dafür drehten mir uralte, muffig riechende Schinken ihre Rücken zu. Teils völlig zerfleddert, ließen sich ihre Titel kaum noch entziffern. Das reichte. Meine Vorliebe für Bücher beschränkte sich ganz klar auf solche Exemplare, deren vorheriger Gebrauch kaum auffiel.

      Der Abstieg aus stickiger Höhe gestaltete sich jedoch spektakulärer als vorgesehen. Völlig darauf konzentriert, nach unten zu schauen und vor allem keine Schwingungen zu erzeugen, verhakte sich mein Wollärmel. Der unerwartete Widerstand brachte erst mich, dann die Leiter und wir gemeinsam das spillerige Bücherregal ins Wanken. Wo hätte ich mich auch sonst reflexartig festklammern sollen? Luft schnappen und Holzknarren wurden jäh von einem dumpfen Donnerschlag übertönt. Totenstille, ich wagte kaum mehr zu atmen. Immerhin keine Bücherlawine. Ächzend entwich die Luft aus meiner Lunge.

      Nach einer gefühlten Ewigkeit schaute ich vorsichtig erst nach oben, wo nun in der obersten Regalreihe ein Loch klaffte. Dann hinunter auf den Dielenboden. Mein Blick haftete sofort an dem einen übergroßen Buch, das meine Odyssee unfreiwillig rabiat zutage befördert hatte. Die logische Frage, wieso aus einer vollgestopften Bücherreihe ein einzelnes Buch herausfallen konnte, kam mir nicht in den Sinn. Mit zittrigen Beinen gelang der Rückzug ohne weitere Zwischenfälle.

      Ich ließ die Leiter einfach stehen und ging vor dem Buch in die Hocke. Merkwürdigerweise lag es keinesfalls wie nach einem, wahrscheinlich falsch geschätzten, vier Meter tiefen Sturz da. Vielmehr exakt so, als sei es vorsichtig abgelegt worden. Aber dieser Gedanke flatterte, weitestgehend ignoriert, in meinem Kopf davon. Denn das, was meine Augen sahen, beanspruchte vollste Aufmerksamkeit. Auf dem safranfarbenen Ledereinband lockte eine wunderschöne, zierlich geschwungene Schrift. Ganz offensichtlich in einer mir unbekannten Sprache verfasst, setzte ich mich dennoch neugierig mit dem Buch auf die Couch. Behutsam öffnete ich den Buchdeckel und blickte mit kindlicher Naschhaftigkeit auf exotisch anmutende Buchstaben, die mir ihre Geheimnisse ohnehin niemals verraten würden. Solch eine Schrift hatte ich nie zuvor gesehen und ihre Farbe schillerte, als ob sie in einem Regenbogen geschrieben wäre.

      Kurzum, ich wickelte das Buch mangels Tüten in alte Zeitungen und zog mich an. Aber ich konnte Josch unmöglich bloß ein bisschen Kleingeld für dieses Prachtexemplar in die Dose stopfen. Vielleicht sollte ich eine Nachricht hinterlassen. „Auf der bitte was stehen soll? Habe ein Buch mitgenommen, Autor, Titel, Alter und Herkunft unbekannt?“, lästerte mein Alter Ego genüsslich. Nein, ich würde das Buch ganz einfach bei meinem nächsten Einkauf zurückbringen.

      Zufrieden verschwand meine unsichtbare Zuschauerin, als sich die Ladentür bimmelnd hinter mir schloss. Der ausgelegte Köder war geschluckt.

      Lange Zeit später fand ich im schottischen Kloster St. Ninian ein dickes Notizbuch mit dem Titel „Inghean“. Darin befanden sich Aufzeichnungen der Elbe Elin. Sie brachten hartes Licht in manche noch dunklen Ecken dieser wahrheitsgetreu zu erzählenden Geschichte.

      Aus dem Buch „Inghean“

      Wieviele Jahre sind nutzlos verronnen, seit ich mich zum letzten Mal diesem Menschenkind zeigte? Mir fehlt die Erinnerung. Graue Tage und schwarze Nächte vergingen, zu endloser Untätigkeit verdammt. Meine Seele schmachtet nach Rache an dem Einen. Nun jedoch wurde das Menschenkind abermals erwählt. Warum nur? Warum verschmäht die Fürstin unsere willigen Elbenseelen? Dienerin und Lehrerin zugleich werde ich jetzt sein, um den Kelch für die Ankunft meiner Fürstin zu formen. Das Licht stehe mir bei!

      Das zauberhafte Buch lag auf dem Esstisch, während ich ungeduldig den sich träge erhitzenden Wasserkessel abwartete. Hier unter dem Küchenfenster fiel noch genügend trübgraues Winterlicht ein, um auf die Deckenlampe verzichten zu können. „Was hat dieses Buch nur an sich?“ Antiquitäten entzogen sich schon immer meinem Interesse. „Geheimnisvoll.“ Mir kam eine Idee und ich flitzte los zum Bücherregal im Wohnzimmer. Vielleicht fand sich im alten Lexikon eine Seite über Schriften.

      Noch bevor ich den entsprechenden Band Sai - Suc aufschlagen konnte, pfiff mich der Wasserkessel zurück. Der Tee musste erst ziehen, also drehte ich mich wieder um. Das mitgebrachte Buch leuchtete! Das Lexikon geriet in Vergessenheit. Ein schmaler Lichtstrahl fiel auf die Schrift. Mein irres Glotzen dauerte exakt 2 Minuten und 40 Sekunden, bis das schrille Piepen der Tee-Uhr gnädig die entglittenen Gesichtszüge in Bewegung brachte.

      Vielleicht wäre der Anfang für mich leichter geraten, wäre mein Blick diesem ersten Lichtstrahl nach draußen gefolgt. Nämlich in Erwartung einer Wolkenlücke, die der tief stehenden Wintersonne eine freundliche Chance gab. Denn da draußen gab es keine Lücke, keinen Sonnenstrahl, nur Einheitsgrau. Andererseits wäre der Anfang garantiert erheblich schlimmer missraten, hätte ich meine unsichtbare Untermieterin aus Joschs Laden zurückkehren sehen. Nachdem die Elbe Elin einst Wächterin über meine Kindheit war, startete mit dem heutigen Tag ihr Fulltimejob bei mir.

      Was war zuerst da, das Summen in meinem Kopf oder das mich umhüllende Licht, als ich auf dem Küchenstuhl saß und mich über das Buch beugte? Keine Ahnung, die ersten Stunden und Tage wirken im Rückblick wie das Ergebnis eines übergeschnappten Schleudergangs in sämtlichen Gehirnwindungen.

      Erfolglos drückte ich jetzt die Zeigefinger in beide