Daniela Zörner

Fürstin des Lichts


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richtete ich meine Aufmerksamkeit auf den Einband. Das Summen nahm zu. „Nein, kein Summen“, überlegte ich, „zumindest nicht wie ein Bienenschwarm“. Es klang eher wie ein von Windböen herbei getragenes Auf und Ab singender Frauenstimmen. Wahrscheinlich die Begleitmusik zu irgendeinem Spielfilm, die mein Gedächtnis aus welchem Grund auch immer gerade jetzt abspulte.

      „Es ist real.

      „Quatsch.

      Vorsichtig klappte ich den Buchdeckel auf. Die Buchstaben tanzten vor meinen Augen, als wollten sie sich für mich neu ordnen. Ich blinzelte. Und las. Und lauschte.

      „Seltsamer Traum.“ Aber warum lag ich nicht in meinem Bett und wo war ich überhaupt? Bleierne Müdigkeit blockierte vernünftige Informationen aus dem Gehirn. Die Augen ließen sich auch nur widerspenstig öffnen. „Aha.“ Der schräge Blickwinkel offenbarte, dass ich mit Kopf und Armen auf dem Küchentisch lag, folglich über dem Buch eingeschlafen sein musste. So etwas passierte mir sonst nie. „Und dieser Traum über Licht und Finsternis und ihren Kampf gegeneinander seit Anbeginn der Welt. Purer Fantasy-Stoff, darüber ließe sich glatt ein ganzes Bu…“ Ich erstarrte mitsamt meinem Gedankengang und weigerte mich, das Szenario in der Küche zur Kenntnis zu nehmen. Unmöglich, dies musste immer noch ein Traum sein. Draußen herrschte tiefe Nacht, hier drinnen brannte keine Lampe, aber um mich herum war Licht. „Der Mond, natürlich!“ Erleichtert über die simple Erklärung suchte ich den Nachthimmel ab. Kein Mond. „Ich träume, ganz einfach. Und wenn nicht? Dann drehe ich jetzt ein klein wenig durch.

      „Es ist wahr.

      Hatte ich das gedacht?

      „Nein.

      „Aufwachen!

      „Du bist erwacht.

      Panik und Angst lieferten sich in Atem raubendem Tempo ein Kopf-an-Kopf-Rennen, brachten den Küchenstuhl zu Fall, ließen erst meine linke Schulter rücksichtslos gegen den Türrahmen krachen, wenige Schritte später das linke Schienbein gegen die Bettkante. Mit kindlicher Naivität sprang ich ins Bett und riss mir die Bettdecke bis über den Kopf. Dann flossen die Tränen. Erst zaghaft, bis schließlich verzweifeltes Schluchzen meinen ganzen Körper schüttelte.

      Irgendwann war alles Elend dieser Welt, insbesondere das meinige, hinaus gespült und ich schlief ein. Den Strahl weißen Lichts, gekommen, um über mich zu wachen, verpasste ich.

      Dröhnende Kopfschmerzen begrüßten mich am sehr späten Vormittag. „Welcher Tag ist heute?“ Wochentage, Geburtstage, Telefonnummern oder Adressen? Komplett unterhalb meiner Aufmerksamkeitsschwelle angesiedelt. Tatsächlich gehörte ich zu jenen bemitleidenswerten Kandidaten, die ihre Geheimzahlen in der Geldbörse aufbewahren mussten.

      Übellaunig kletterte ich aus dem Bett, um gewohnheitsgemäß erst Tee zu kochen. Danach schlurfte ich ins Bad. Mein Spiegelbild präsentierte dick verquollene Augen. Eine saftige Ohrfeige hätte mein Erinnerungsvermögen kaum effektiver wachrütteln können. „Ganz ruhig, tief durchatmen. Ich bin keineswegs verrückt, sondern eine ganz normale Durchschnittsfrau im Durchschnittsalter mit Durchschnittsgewicht, die vorzugsweise Jeans, Baumwollpullover und bequeme Schuhe trägt.“ „Lenk jetzt nicht vom Thema ab“, protestierte mein Alter Ego. Ratlosigkeit schwappte heran. Diese träge, anspruchslose Empfindung vermittelte mir aus welchem Grund auch immer das sichere Gefühl, mit den nackten Füßen fest auf den kalten Fliesen zu stehen. Und wie lange, verdammt noch mal, wollte ich das Summen in meinem Kopf ignorieren?

      „Was nun eigentlich, Summen oder Singen?“ Vorsichtig hörte ich genauer hin. Sphärisch schön, oh, aber unterirdisch schwer zu beschreiben. Das mag dieser klägliche Versuch verdeutlichen: Wie Polarleuchten über dem samtroten Sonnenuntergang der Karibik, begleitet von Kaskaden silbriger Sternschnuppen. Eine sanfte, vielschichtige, wärmende Harmonie, zugleich traurige, sehnsüchtige Frauenstimmen. Eindeutig nicht von dieser Welt. „Höre ich Worte?“ Ganz gewiss erst in dem Moment, da sich die Frage in meinem Kopf formulierte.

      „Lilia, fürchte dich nicht.

      „Häh? Wieso Lilia? Wer bitte schön ist Lilia?“ Also doch Stoff aus irgendeinem Spielfilm. Obwohl „fürchte dich nicht“ mehr nach einem Psalm klang. Ja, im Analysieren war ich schon immer unschlagbar.

      „Du bist Lilia, Lilia Joerdis van Luzien.

      „Nein, nein und nochmals nein!“, motzte ich mein Spiegelbild an. „Und ganz sicher werde ich niemals, ich betone, niemals wahnsinnig. Keine Fälle in der ausgestorbenen Familie bekannt. Basta!“

      Fies kommentierte mein Alter Ego: „Deine Mutter war aber ziemlich wahnsinnig. Vergessen?“

      „Schnauze halten im Hinterhirn!“

      Die Wirkung meines Wutausbruchs glich einem zerschnittenen Band. „Gut so, Ruhe im Karton, Thema erledigt.“ Ganz bewusst richtete ich meine volle Aufmerksamkeit auf stupides Zähneputzen, Waschen und Anziehen.

      Energisch betrat ich die Küche und klappte das Buch so zu, dass die Rückseite oben zu liegen kam. Schwacher Widerwille regte sich dagegen, weshalb ich genervt die aufgefüllte Teetasse ergriff und schleunigst ins Wohnzimmer verschwand. Plan A musste her, kurz und schmerzlos. „Also: Den Kopf bei einem Spaziergang zu Joschs Antiquariat gründlich durchpusten lassen, das Buch zurückgeben. Fertig.“ Samstags schloss Josch meist gegen 16 Uhr ab, mithin war noch reichlich Zeit. „Heute ist doch Samstag, oder?“ Ich ging in die Küche, um die Tasse aufzufüllen, und warf dabei einen Blick auf den Wandkalender. „Sonntag. Dann eben bloß der Spaziergang“, seufzte ich leise. Ein leichtes Unbehagen im Gefühlszentrum namens Bauch begann sich hartnäckig festzusetzen.

      Frostige Kälte schlug mir ins Gesicht. Ziellos ließ ich mich durch die nahen Straßen treiben – und stand höchstens fünfzehn Minuten später wieder vor meiner Wohnungstür. Schlecht. „Ach was, mit mehr Tee, Frühstück und gutem Willen lässt sich jedes Problem lösen.“ Nüchtern betrachtet schmorte ich zu sehr im eigenen Saft und das hatte offensichtlich meine Nerven überreizt. Als ein von Natur aus eher ängstlicher, introvertierter Typ zeigte ich wenig Vorliebe für zwischenmenschliche Kontakte. Stundenlange Spaziergänge durch einsame Wälder oder entlang möglichst menschenleerer Küsten, klassische Musik und dicke Schmöker, sie entsprachen in meinen Augen grenzenlosem Freizeitglück. „Könntest du endlich mal zum Thema kommen?“, verlangte mein Alter Ego. „Das Buch?“ „Richtig.“ „Der Gesang?“ „Korrekt.“ „Das Licht?“ „Und so. Also tritt dich mal in deinen nicht mehr ganz so hübschen Hintern“, zeterte die Meckerecke vom Dienst.

      Ungebeten bekam ich sphärische Unterstützung.

      „Lilia, bitte hilf uns. Lies das Buch.“

      Hatte ich doch schon, zumindest einen kleinen Teil davon. „Oder?“ Seltsamerweise wollte sich keine greifbare Erinnerung an den gelesenen Abschnitt einstellen. Mehr ein Gefühl von Bedrohung, Kampf und Verlust.

      Mit jeder verstreichenden Minute schwoll der Sog des Buches an. Er war um ein Vielfaches stärker als jeder nervenaufreibende Thriller, bei dem man mitten im Showdown gezwungen wurde, ihn aus der Hand zu legen. Folgerichtig schaltete ich mechanisch die Esstischlampe ein und setzte mich abermals an den Küchentisch.

      Auf seiner safranfarbenen Vorderseite starrten mich Hieroglyphen an. Zugegeben, augenblicklich breitete sich Enttäuschung in mir aus. Hartnäckig starrte ich zurück. Sie begannen ihren flirrenden Tanz. „Das Licht kann ohne Schatten nicht sein“ erschien vor meinen Augen. Enttäuschend unspektakulär, der Buchtitel, regelrecht banal. „Obwohl, eine alte, häufig benutzte Redewendung lautet doch: Wo Licht ist, da ist auch Schatten.“ Grübelnd griff ich nach meiner Tasse. „Wie geht noch gleich der andere Spruch?“, murmelte ich leise. „Gut und Böse liegen oft eng beieinander?“

      „Lies das Buch, du wirst Antworten finden“, schmeichelten die Stimmen.