Paul Stefan Wolff

Einzelbilder werden zum Mosaik


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ich Hannah für ihre Persönlichkeit übrig gelassen und wie viel ist Projektion? Und wie viel davon Bier? Und vor allem, wie viel von dem Bier ist negativ? Ich habe mal gelesen, dass ein Magier einem Samen den zukünftigen Baum ansieht; wie viel von meinem Bier könnte Hannah sein und noch werden, wenn sie selber noch nicht von ihrem erreichten Alter voreingenommen wäre? Trinken wir uns jemanden nur schön, weil wir zu alt geworden sind, ihn schön zu sehen? Man sagt, Besoffene und Kinder haben einen Schutzengel, warum eigentlich? Ein Sturzbesoffener hört sich an wie ein Kind, fühlt sich unschlagbar und wirft sich neugierig jedem sofort an den Hals oder, je nach dem wie die Kindheit war, er wird aggressiv. Die Antwort ist einfach, wir trinken uns jung, wir trinken uns unvoreingenommen und neugierig, wir trinken die Verantwortung des Alters weg. Ich ging nach Hause und murmelte lange vor mich hin in Babysprache: Ata, ata, Hannah.

      Am nächsten Mittwoch war ich sehr nervös. Das Leben ist der Ernstfall, sagte ich mir immer wieder, denn heute ist der große Tag, heute werde ich ihr meine Gefühle gestehen. Zum Konzentrieren ohrfeigte ich mich kurz vor dem Rausgehen drei Mal. Das erste Mal war zaghaft, das zweite Mal schon besser. Die dritte Ohrfeige schallte wie der Gong zur ersten Kampfrunde. Nur wie? Das Bier ist halb leer, ich winke sie zu mir und versuche es mit Ehrlichkeit: Ich will dich sofort, hier! Sie lächelt mich an, nickt und antwortet durch den großen Lärm: Ok, noch ein Bier.

      Das war natürlich nur leichter Delirium.

      Ich gehe zur Bar mit der festen Überzeugung, mich theatralisch auf die Theke zu schwingen und drei oder vier Salti zu schlagen, um dann direkt vor ihr mit einer Rose zwischen den Zähnen zu landen und dann oscarreif zu sagen: Diese Rose geht an dich, für die schönste Bedienung nördlich der Pegnitz und östlich des Mississippi. Sie überreicht mir ein Bier, setzt ihr schönstes Trinkgeldlächeln auf, ich schmelze dahin und denke mir oscarreif: Diesen Preis verdanke ich meinen Eltern, meinem Agenten und meiner Produktionsfirma, die mich allesamt immer und zu jeder Zeit - in den Alkoholismus hineingetrieben haben.

      Ich setze mich wieder hin und gieße dieses zarte Pflänzchen, das bei aufopferungsvoller Pflege und steter Hingabe in nicht allzu ferner Zeit ein stattlicher Suff werden soll. Ich bin auf dem besten Wege, denn ich ertappe mich dabei, dass ich meine Nasenhaare rupfe, um das „Sie liebt mich - Sie liebt mich nicht“ - Spiel zu spielen. Ich bin gerade bei der zuversichtlichen Etappe, als sie mich dabei ertappt, ich ziehe so abrupt die Hand aus der Nase, dass ich dabei das Bierglas umschmeiße. Aber ich bin schnell genug, es aufzufangen und dann sehe ich zum ersten Mal Hannahs Version eines anerkennenden Gesichtsausdrucks.

      Hannah ist Leben. Ich sehe sie an und frage mich, wie viele Anläufe die Welt gebraucht hat, um so ein perfektes Wesen zu erschaffen. In diesem Moment dreht sie sich um, schenkt mir ein Lächeln und ich finde, es muss ein glückliches Universum sein, so einen Menschen zu beherbergen. Wie schwer ist es für das Universum, Atome so zu ballen, dass Materie entsteht? Nicht schwer, es ist Anziehungskraft. Aber wie selten passiert es, dass ein Sonnensystem entsteht, wo im günstigen Abstand zur Sonne Wasser nicht verdampft und nicht zu Eis wird, sondern den flüssigen Aggregatszustand beibehält und so sich bewegende Mehrzeller ermöglicht, die dann das Wasser verlassen, das bewusste Denken lernen und als Spitze der Evolution schließlich zu lieben lernen. Es fing alles mit der Anziehungskraft an, alles fängt mit der Anziehungskraft an und geht den beschwerlichen Weg der Rückschläge und endet nur äußerst manchmal in Liebe.

      Dieser Gedanke raubte mir Verständnis für Zeit und Raum und plötzlich fand ich mich am Stammtisch der Bedienungen wieder. Hannah hatte einen Ramazotti Sour, während Tina einen Wein trank und mich aufforderte, etwas zu sagen. Ich fragte: Lust auf ein Wortspiel? Sie nickten und ich legte los: Welche kanadische Stadt möchte man zum Fünf-Uhr-Tee nicht missen? Die Antwort ist: Quebec. Sie grinsten und für einen Moment gehörte ich zur Mannschaft dazu. Ich hätte platzen können vor Stolz. Und dann sagte Hannah, der wäre so lala.

      Eine Freundin von mir, sagte nun Hannah, hatte eine typisch weibliche Erbkrankheit, nämlich Gluten-Unverträglichkeit. Gluten, das ist eine Eiweiß-Sorte, die in Getreide vorkommt. Da vieles mit Zutaten daraus gemacht wird, artet das übel aus, man kann auswärts fast nichts essen. Und dann hat sie einen Typen kennen gelernt und war unsicher, ob er sie wirklich möge. Sie bezeichnete ihn als Pizza, die ihr sehr schmecke, ihr aber nicht gut tun würde. Und dann überrascht er sie, er wusste, dass sie Pizza mag, mit einer aus Pizzateig ohne Gluten. Auf die Idee war noch keiner ihrer Exfreunde gekommen und so war sie von da an richtig von ihm begeistert. Hannah sieht uns an, dieser Typ hatte sich ernsthaft Gedanken gemacht und ihr einen Herzenswunsch erfüllt. Das ist toll an Männern, sagte Tina nickend und Hannah nickte mit.

      In all den Zeiten, in denen ich Single war und bin und mich fragte, was ich alles tun müsste, um eine Freundin zu bekommen, wäre ich nie darauf gekommen, dass alles, was mich in den Augen einer Frau zu etwas Besonderen machen könnte unter Umständen nichts anderes sei, als der Kauf eines Pizzabodens. Vergiss den täglichen Blumenstrauß, sagte ich mir, das wöchentliche Liebesgedicht ist es nicht, nicht die spontanen Einkaufsausflüge nach London. Der Kauf eines Pizzabodens, nicht mehr. Hannah, was ist für Dich besonders? Ich würde dir ganze glutenfreie Tortenböden kaufen, cholesterinfreie Margarine und zuckerfreie Bonbons. Noch mehr, ich würde dir sogar holzfreies Papier und filterlose Zigaretten kaufen und ja, mein Herz, ich würde es wirklich tun, sogar koffeinfreies Cola light. Du Hannah, du Spitze der Nahrungskette, du.

      Tina geht Gläser einsammeln und ich weiß, jetzt ist der Moment. Ich atme drei Mal tief durch, ich checke gedanklich die 7 besten Varianten, entscheide mich für die Überraschung, ich hole tief Luft und springe auf. Da kommt Tina mit dem vollen Tablett vorbei, sie reißt das Tablett nach oben und schreit laut auf.

      Das Tablett kracht auf den Boden, Tina kniet sich instinktiv hin und versucht, sich den linken Arm mit dem Rechten zu schützen. Hannah sieht sich den Arm an und fragt, ob das schon öfters passiert sei. Ja, ächzt Tina, sie habe eine zu flache Gelenkpfanne. Hannah geht hinter den Tresen, sie holt ein paar Putzlappen darauf wird der Arm aufgestützt und mit gekonnten Griffen wieder eingerenkt. Zerknirscht beschließe ich zu gehen. Ich höre noch, dass sich Hannah für ihre Tat mit einer Extraportion Erdbeereis belohnen wird und dann ist alles klar.

      Beim Bezahlen fällt mir ein Zettel aus der Brieftasche heraus, es ist meine „Ich liebe dich“-Sammlung. „Aischte imasu“ Japanisch, das geht einem doch recht schnell über die Lippen. Wobei „Neo reul sa rang hae“ südkoreanisch und „Lei lei tirk sika palalo“ auf philippinisch einen doch subtil daran erinnern, es nicht allzu beiläufig auszusprechen. Und - wir reden immer noch von einer zärtlichen Ansprache bei Kerzenschein und sanfter Musik, auf Finnisch: „Minä rakastan sinua“. Ich denke mir, wenn sie „Ich liebe dich“ so aussprechen, dann möchte ich nicht wissen, wie sie ein Todesurteil aussprechen. Bei: „Haluatko vaimokseni“, immer noch finnisch, wird es ernst, gerade muss ich daran denken, denn es ist ein Heiratsantrag und eine Frau, die sogar einen Arm wieder einrenken kann, wollte ich immer schon haben. Ich wollte schon immer eine Frau, die vor nichts außer Erdbeereis in die Knie geht.

      Das war nicht immer so. Früher wollte ich gebraucht werden, aber mittlerweile bin ich selbstbewusster, weil reifer. Das Pochen auf Halbwissen ist ein Symptom, das man nur hat, wenn man das Wesentliche des Menschen nicht erkannt hat, nämlich die Beschränktheit, die Unvollkommenheit, die Verurteilung zum langsamen Verfall, kurz: die Krankheit. Und deshalb glaube ich, dass man den inneren Reifungsprozess ganz einfach messen kann, und zwar an der Anzahl der Ärzte, die man schon gesehen hat. Zweifelsohne ist Krankheit und sind Ärzte eine alterstypische Erscheinung. Kieferorthopäden zum Beispiel sind typische Teenager-Ärzte, während Schönheitschirurgen vorwiegend im mittleren Alter vorkommen und Angiologen, also Gefäßchirurgen und Rheumatologen erst viel später kommen, von Gerontologen ganz zu schweigen.

      Während ich diesen Gedanken nachhänge, suche ich gerade eine Wohnung und ich muss verblüfft feststellen, dass Wohnungen ähnlich sind. Vorgestern betrat ich eine, die eindeutig einen Phonetiker benötigte, die Technosounds vom Nachbarn war nicht mehr normal. Es folgte eine Dachwohnung, die einen Orthopäden bräuchte, die Stützwände waren morsch und eine, die ob der Ungeziefer einen Tierarzt bräuchte, wenn nicht gar einen Seuchenexperten vom Institut für tropische Krankheiten. Mit dem Besuch einer Wohnung, die geradezu um einen Urologen bettelte, beendete ich meine Suche einstweilen