Robert M. Ellis

Buddhas Mittlerer Weg


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die dessen ungeachtet viel dazu beiträgt, die Vielschichtigkeit dessen, was gemeint ist, zu veranschaulichen:

      „Dies nun, Bhikkhus, ist die edle Wahrheit vom Leiden: Geburt ist Leiden, Altern ist Leiden, Krankheit ist Leiden, Tod ist Leiden; Vereintsein mit Unangenehmem ist Leiden; Getrenntsein von Angenehmem ist Leiden; nicht zu bekommen, was man will, ist Leiden; kurz gesagt, die fünf Aggregate, an denen man anhaftet, sind Leiden.“{57}

      Wenn wir dies mit Blick auf den Mittleren Weg lesen, dann wird deutlich, dass wir auf die allgemeinen Auswirkungen der Verabsolutierung hingewiesen werden. Es gibt viel „Leiden“ in der menschlichen Erfahrung, an dem keine Praxis etwas ändern kann (darunter Altern, Krankheit und Tod). Es gibt jedoch auch eine Menge unangemessener Beurteilungen die unsere Erfahrung, nicht zu bekommen, was wir wollen, schlimmer werden lässt, als sie eigentlich sein müsste. Der Buddha bedient sich einer speziellen Analyse der Faktoren, die uns dazu verleiten, Überzeugungen über das Selbst (die fünf Aggregate) zu verabsolutieren, um diesen Umstand zu verdeutlichen: Wir haben diese Erfahrungen der Unzulänglichkeit, weil sich unsere Beurteilungen ständig verändern und ein nicht integrierter Zustand die Ziele eines anderen untergräbt. Wenn wir dies in Einklang mit dem Mittleren Weg interpretieren, dann ist es kein kosmisches Gesetz, das erkannt worden ist. Es ist nicht einmal eine „Wahrheit“. Es ist jedoch eine eindringliche Bekräftigung dessen, dass wir uns den sich ständig verändernden Bedingungen für unsere Annahmen über „Realität“ und „Wert“ stellen müssen.

      Die zweite Wahrheit betrifft den Ursprung des Leidens:

      Es ist diese Begierde, die zu neuer Existenz führt, begleitet von Vergnügen und Lust, auf der Suche nach Vergnügen im Hier und Dort; das bedeutet, Durst nach Sinnesfreuden, Durst nach Existenz, Durst nach Vernichtung.“{58}

      Durst (Tanha) ist ein anderer Begriff für Verabsolutierung, sollte aber nicht mit dem Begehren in seiner Gesamtheit gleichgesetzt werden (s. Kapitel 6.c.). Wir haben bereits gesehen, wie der Buddha Begierden begegnete, die „nicht in meinen Geist eindrangen und blieben“. Es geht also um die Art von Begierden, die mit Verabsolutierung verbunden sind, solche, die obsessiv (Lust) und nicht integriert („hier und dort nach Vergnügen suchend“) sind. Bei diesen nicht integrierten Obsessionen kann es sich um Sinnesfreuden handeln (beispielsweise abhängig machende). Es kann auch um Lebensumstände gehen, in denen wir uns in der Zukunft wiederfinden möchten (enge Zielsetzungen). Oder es kann sich um Dinge handeln, die wir zerstören möchten, unabhängig davon, ob sie in uns selbst liegen oder außerhalb.

      Verabsolutierung ist hierbei ein entscheidendes Konzept, das uns in die Lage versetzt, ohne weiteres unterscheiden zu können, was Begierden nützlich oder hinderlich macht. Ohne sie kommt es wahrscheinlich zu einem von zwei Missverständnissen. Das eine ist, dass der Buddhismus alles Begehren missbilligt, was es schwierig macht, zu verstehen, wie er mit dem Leben und seinen Genüssen vereinbar ist. Das andere ist der Versuch, zwischen Begierden zu unterscheiden, die dem Erwachen zuträglich sind, und solchen, die nur zur Fortsetzung hinderlicher Kreisläufe fixer Ideen führen. Uns zu sagen, dass eine Kategorie zum Erwachen führt und eine andere nicht, hilft uns nicht, aus Erfahrung zu erkennen, welche hilfreich sind und welche nicht – ein Punkt, den ich in Kapitel 6.c. noch einmal aufgreifen werde. Es handelt sich auch nicht nur um bestimmte Formen des Begehrens, die problematisch sind: Es gibt einen umfassenderen Kontext umgebender Überzeugungen.

      Wir können generell geltend machen, dass Begierden zu verabsolutieren häufig zu Unzulänglichkeit oder Frustration führt, aber inwieweit und auf welche Weise dies im Einzelfall geschieht, kann nur durch Erfahrung genauer beurteilt werden. Wenn wir aus einem absoluten Karma-Gesetz ableiten, dass dies in einem bestimmten Fall geschehen muss, werden wir wahrscheinlich die Komplexität der Bedingungen, die dabei eine Rolle spielen, falsch einschätzen. Auch werden wir unseren eigenen Grad der Unwissenheit darüber nicht hinreichend berücksichtigen. Wenn ich z.B. besitzergreifende Gefühle gegenüber meiner Partnerin hege, nur weil sie fröhlich mit einem anderen Mann spricht, wird wahrscheinlich die gewohnheitsmäßige Eifersucht, die dadurch befördert wird, nur dazu führen, dass sich mein eigenes Bewusstsein verengt und mich unglücklich macht (und auch andere, wenn ich solche Gedanken äußere oder entsprechend handele). Aber es besteht immer Ungewissheit über jegliche derartige Wirkung, nicht nur darüber, worin sie besteht und wann sie eintritt, sondern auch darüber, ob sie überhaupt eintritt.

      Die dritte edle Wahrheit besteht in der Beendigung des Leidens:

      „Es ist das rückstandslose Erlöschen und die Beendigung eben dieses Begehrens, das Aufgeben und Loslassen dessen, die Freiheit davon, die Unabhängigkeit davon.“{59}

      Diese Beendigung wird gemeinhin mit Erwachen identifiziert, aber der Buddha nimmt diese Zuordnung hier nicht vor. Tatsächlich muss die Beendigung des Begehrens überhaupt nicht absolut gesehen werden. Ein bestimmtes Begehren hört auf, wenn wir es integrieren und es steht nicht mehr mit seinem Gegenpart in Konflikt, weder in uns noch außerhalb von uns. Dies ist keine schonungslose Vernichtung dieses Begehrens, sondern nur ein Wassertropfen, der in einen größeren Strom eintritt. Das „Erlöschen“ ist folglich ein angemessen gradueller Begriff, den wir entsprechend verwenden sollten. Unsere Obsession loszulassen ist kein Verdrängen, sondern ein Einordnen dieser Obsession in einen umfassenderen Kontext, der uns von der Ausschließlichkeit ihrer Zwänge befreit. Die Beendigung geschieht somit jedes Mal, wenn wir den Mittleren Weg praktizieren, um ein absolutes Urteil zu vermeiden und gegensätzliche Überzeugungen zu integrieren.

      Die vierte edle Wahrheit, die Beendigung des Leidens, wird wiederum mit dem Achtfachen Pfad gleichgesetzt, wodurch sich der Kreis schließt. Dies erinnert uns auch daran, dass der Weg, um das Erlöschen der Verabsolutierung in jedem Augenblick zu bewirken, darin besteht, den Mittleren Weg zu praktizieren. Allzu oft werden die Vier Edlen Wahrheiten als Schlussfolgerungen aus einer ursprünglichen kosmischen Wahrheit dargestellt, aber die Erste Lehrrede des Buddha stellt sie überhaupt nicht auf diese Weise dar. Wir werden erst im Anschluss an den Mittleren Weg in die Vier Edlen Wahrheiten eingeführt, und zwar in einer Weise, die auf ihre wechselseitige Abhängigkeit hinweist.

      Die restlichen Teile von Buddhas Erster Lehrrede sind im Text des Pali-Kanons ausgesprochen repetitiv, aber sie haben Buddhas Ausführungen über die Wirkungen der Vier Edlen Wahrheiten auf ihn zum Gegenstand. Er sagt, er habe sie nicht nur formuliert, sondern „vollständig verstanden in Bezug auf Dinge, die zuvor nie gehört wurden“{60} – was auf eine Flexibilität und Universalität seines Verständnisses hindeutet, die es ihm erlaubt, sie auf jede neue Situation anzuwenden. Dann verbindet er jede der Vier Edlen Wahrheiten mit der Art und Weise, wie wir auf sie reagieren sollten: Leiden ist zu erkennen, der Ursprung des Leidens ist aufzugeben, die Beendigung des Leidens ist zu verwirklichen und der Pfad, der zur Beendigung des Leidens führt, ist zu entwickeln.{61} Stephen Batchelor betont diese vier Tätigkeiten als Grundlage für die Einsicht, die hinter den Vier Edlen Wahrheiten, wie sie überliefert wurden, steht. Aus diesem Grund stellt er sie als die Vier Aufgaben und nicht als vier Wahrheiten dar.{62} Unabhängig davon, ob man Batchelors Behauptungen zur Geschichte, dass die vier Aufgaben den vier Wahrheiten vorausgingen und somit für den „ursprünglichen“ Buddha charakteristisch waren, akzeptiert, bietet seine Interpretation einen weitaus hilfreicheren Ansatz, um diesen Text zu interpretieren.

      Es ist sein „Wissen und sein Sehen dieser Vier Edlen Wahrheiten, wie sie wirklich sind“, sagt der Buddha, die ihn nun dazu veranlassen, „zu beanspruchen, zur unübertroffenen, vollkommenen Erleuchtung in dieser Welt erwacht zu sein“.{63}

      Es ist unmöglich, die Widersprüche in dieser letzten Äußerung zu vermeiden. Der Buddha mag seinen eigenen Status aus Unerfahrenheit übertrieben darstellen, wie er es bei Upaka getan hat. Vielleicht hat er diese Methode gewählt, weil er dachte, es wäre notwendig, um seine Hörer zu überzeugen. Vielleicht ist die wahrscheinlichste Erklärung ganz einfach, dass er widersprüchliche Überzeugungen in Hinblick auf die Einsichten, die er hatte, in sich trug. Diese Inkonsistenz sollte uns nicht allzu sehr von den Einsichten an sich ablenken, denn der Buddha muss nicht perfekt sein. Der Mittlere Weg ist immer eine verworrene Praxis, die von fehlbaren Menschen geübt wird. Die Darlegung des Mittleren Wegs und seiner Implikationen, die der Buddha bereits vor diesem