Robert M. Ellis

Buddhas Mittlerer Weg


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wird. Ich vertrete die Ansicht, dass es eine schlichte Frage der Prioritäten ist, wie wir das Erwachen verstehen wollen. Einerseits können wir es auf eine Weise erklären, die mit dem Mittleren Weg, als grundlegendste und universellste Einsicht, die man aus Buddhas Leben und Lehren gewinnen kann, vereinbar ist. Andererseits könnten wir auf Grundlage einer anderen, traditionelleren Interpretation des Erwachens beginnen und diese dann auf den Mittleren Weg anwenden.

      Aus den bereits in diesem Buch dargelegten Gründen, ist erstere Schwerpunktsetzung aus rein praktischen Gründen zu bevorzugen. Erwachen sollte in Begriffen interpretiert werden, die mit dem Mittleren Weg vereinbar sind, nicht nur, weil der Mittlere Weg das charakteristische Beurteilungsprinzip ist, das der Buddha anbietet, sondern, weil es für jeden, überall die beste Möglichkeit schafft, die Angemessenheit der eigenen Reaktionen auf Erfahrungen zu verbessern. Das Erwachen in einer Weise zu interpretieren, die mit dem Mittleren Weg vereinbar ist, bedeutet, dass das Erwachen nicht als ein absoluter oder diskontinuierlicher Zustand verstanden werden kann, der Zugang zu irgendeiner Form von absoluter Wahrheit gewährt. Es impliziert, dass wir, wenn wir die Leistung des Buddha beachten, der Methode des Buddha in seinen Begegnungen mit Alara Kalama und Udaka Ramaputta folgen sollten. Diese Methode besteht darin, von den Methoden und Errungenschaften eines spirituellen Lehrers zu lernen, sie aber nicht notwendigerweise als letztendliche Verwirklichung oder letztes Wort zu nehmen.

      Andererseits könnten Sie sich dafür entscheiden, das Erwachen so zu interpretieren, dass die Autorität der Tradition dem praktischen Wert des Mittleren Wegs übergeordnet wird. Wenn Sie dies nur um der Tradition willen tun und nicht, weil es irgendwelche praktischen Vorteile in den von der Tradition vertretenen Ansichten gibt, dann machen Sie den Denkfehler, sich ohne Bedeutung auf Tradition zu berufen. Eine bestimmte Herangehensweise ist nicht auf Grund der Anzahl oder der Autorität der Menschen richtig, die sie in der Vergangenheit verfolgt haben, sondern wegen ihrer generellen Eignung für die menschliche Erfahrung. Unser Verständnis dessen, was für die menschliche Erfahrung am geeignetsten ist, muss unseren Grad der Unwissenheit berücksichtigen. Der wirksamste Weg, die gegenwärtige Unwissenheit zu berücksichtigen, besteht jedoch nicht darin, einer traditionellen Quelle absolute Autorität zu verleihen. Diese Quelle haben wir unweigerlich selbst gewählt und interpretiert und sie kann sich später als die falsche erweisen. Ein sinnvoller Weg besteht vielmehr darin, unsere Urteile vorläufig und schrittweise zu fällen, solange wir höhere Integrationsgrade entwickeln.

      Eine Entschlossenheit, das Erwachen in einer Weise zu interpretieren, die mit dem Mittleren Weg vereinbar ist, bedeutet jedoch nicht, dass wir uns nicht tief von der Geschichte über das Erwachen des Buddha inspirieren lassen können. Wie bei jeder Geschichte, reicht ihre Bedeutung für uns weiter als die Überzeugungen, die durch sie möglicherweise hervorgerufen werden. Das Erwachen liefert ein bedeutungsvolles Symbol für das Ziel am Ende des Mittleren Wegs und der Buddha selbst kann dieses Symbol ebenfalls darstellen (s. Kapitel 6.e). Die Vorstellung, dass auch wir erwachen könnten, gibt einen Einblick in unser eigenes Integrationspotenzial. Die Schilderungen der Verwirklichungen des Buddha zur Zeit seines Erwachens geben uns auch eine vorläufige Vorstellung davon, welche Art von Einsichten wir durch eine stärkere Integration erlangen könnten.

      Die Erkenntnis, dass wir Erwachen sinnhaft finden können, ohne absolute Überzeugungen darüber zu haben, ist für den Mittleren Weg von zentraler Bedeutung. Das liegt daran, dass die Rolle des Körpers, uns mit Sinn zu versorgen, unser Ausgangspunkt ist, um Verabsolutierung zu vermeiden. Wir haben bereits festgestellt, dass Siddharthas Rückbesinnung auf seine Erfahrung unter dem Rosenapfelbaum ihm eine Alternative zur Askese bot, eben weil Jhana eine Erfahrung ist, die im Bewusstsein, den Körper anzunehmen wurzelt. Der Körper ist nicht nur wesentlich, um unser Leben aufrechtzuerhalten, sondern auch damit wir in der Lage sind, Symbole über Assoziationen mit Erfahrungen zu verknüpfen. Die Symbole können sowohl Worte als auch andere Sinneserfahrungen einschließen und die Assoziationen sind auch synaptische Verknüpfungen im Gehirn. Seit den 1980er Jahren wurden verkörperte Darstellungen von Bedeutung entwickelt.{35} In diesen kann die Bedeutung selbst abstraktester Sprache als metaphorische Entwicklung sehr grundlegender Assoziationserfahrungen verstanden werden, die oft im Kindesalter begonnen haben. Zum Beispiel ist die Idee des Mittleren Wegs selbst eine metaphorische, die von unseren Assoziationen zwischen diesem Begriff und unseren Erfahrungen, irgendeine Art Pfad zwischen Zielen auf beiden Seiten entlang zu gehen, abhängt (s. Kapitel 3.b). Bei dieser Art des Nachdenkens über Bedeutung, wie sie in unseren Körpern begründet ist (weiter ausgeführt in Kapitel 3.a und 7.g), haben Bedeutungen Vorrang vor Überzeugungen. Das liegt daran, dass Überzeugungen aus Bedeutungen aufgebaut sind und nicht umgekehrt.

      Was bedeutet „Erwachen“ oder „Erleuchtung“ für uns? Es kann eine Extrapolation unserer begrenzten Integrationserfahrungen sein – vielleicht meditativer, religiöser oder ästhetischer Erfahrungen – bis hin zu ihrer äußersten möglichen Schlussfolgerung. Wir betrachten dies als die tiefe, klare, ekstatische Erfahrung, die wir gemacht haben, aber noch viel intensiver. Da unsere Energien oft miteinander in Konflikt stehen, kann es auch einen Blick auf ein potenziell größeres Selbst ohne diesen Konflikt bedeuten, den wir in uns selbst intuitiv wahrnehmen. Dies könnte wie ein Blitz wirken, der uns einer ganzen Landschaft gewahr werden lässt, an einer Stelle, von der wir vorher dachten, es gäbe nichts, aber nur für einen Augenblick. In unserer Erfahrung kann Erwachen also in engem Zusammenhang mit tatsächlicher oder potenzieller Integration stehen. Es kann die Überwindung von Konflikten in uns selbst sein, die uns besser in die Lage versetzt, all unsere Energien zu bündeln und die Welt um uns herum mit größtmöglicher Weisheit anzupacken. Unser Verständnis von Erwachen kann sich auch hauptsächlich aus Geschichten wie der des Buddha ergeben: aber das ist auch ein Bedeutungsverständnis, das in unserem Körper gründet, da wir eine inspirierte Reaktion auf die Person zeigen, der wir begegnen. Da diese Integration mit einer gewissen Skepsis einhergehen muss, können wir nie davon ausgehen, dass die Integration vollständig ist, weder unsere eigene noch die des Buddha. Dennoch macht der Umstand, dass sie unserer Erfahrung zugänglich ist, sie bedeutungsvoll.

      Wenn Erwachen eines dieser Dinge (und vielleicht auch viele andere Dinge) bedeutet, dann besteht es in Bedeutung. Das bedeutet nicht nur, dass „Erwachen“ ein Wort ist, das wir in der Kommunikation verwenden können (was auch immer es, wenn überhaupt, anderen mitteilt), sondern auch eines, das eine emotionale Wirkung auf uns hat, das uns bewegt. Diese Wirkung ist unabhängig von irgendwelchen Überzeugungen, die wir darüber haben. Tatsächlich sind die Überzeugungen, denen wir anhaften, wahrscheinlich eine Folgereaktion darauf, dass wir sie mit einem Netz konzeptueller Informationen in Verbindung bringen. Wir können sie verwenden, um vorläufige, nicht-absolute Überzeugungen zu formulieren, die durch Erfahrung einfach überprüft werden können, wie etwa, dass „Buddhisten Erwachen mit dem Buddha assoziieren“. Dennoch verwenden Buddhisten und andere es auch häufig, um absolute Überzeugungen zu formulieren, die sich nicht unbedingt in gleicher Weise mit Erfahrungen in Verbindung bringen lassen, wie etwa „Der Buddha erkannte die höchste Wahrheit“ oder „Der Buddha sah die Dinge, wie sie wirklich sind“ oder „Der Buddha befreite sich aus dem Kreislauf der Wiedergeburten“. Diese Überzeugungen sind kein notwendiger Aspekt, um das Erwachen inspirierend zu finden – sie sind ein Nebengedanke, der von einer Reihe abstrakter Annahmen abhängt, denen wir die unmittelbare Bedeutung von „Erwachen“ zugeordnet haben. Häufig sind sie ein Weg, um in eine Gruppe aufgenommen zu werden, die solche Überzeugungen als Abkürzung zu gesellschaftlicher Akzeptanz nutzt. Sie haben in der Währung dieser Gruppe wesentlich mehr Bedeutung als in der persönlichen Erfahrung spiritueller Praxis.

      Absolute Überzeugungen über Erwachen sind eindeutig unvereinbar mit dem Mittleren Weg, wie Siddhartha ihn entdeckt hat. Siddhartha ging gerade wegen der Verabsolutierung von Annahmen in diesem traditionellen Umfeld aus dem Palast fort. Er erkannte, dass dies seine Fähigkeit, auf die Bedingungen um ihn herum einzugehen, stark einschränkte. Aus den gleichen Gründen lehnte Siddhartha die absoluten Annahmen der spirituellen Lehrer und der Askese ab. Werden wir wirklich das frühe Leben des Buddha durcharbeiten, diese Punkte vor dem Erwachen würdigen und sie dann gegen ein Paar Ad-hoc-Rationalisierungen eintauschen, wenn wir zum Erwachen gelangen? Werden wir das Erwachen wirklich in einer völlig inkonsistenten Weise behandeln, verglichen mit dem Rest der Geschichte?

      Mit diesem Gedanken im Hinterkopf wollen wir uns die Passagen im Pali-Kanon