Robert M. Ellis

Buddhas Mittlerer Weg


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auch, welche vorläufigen Überzeugungen sie rechtfertigen könnten.

      Die Ausführlichste Beschreibung des Erwachens im Pali-Kanon findet sich in der Mahasaccaka Sutta.{36} Sie beginnt mit Buddhas Aufstieg durch die vier niederen Jhanas, wobei er auf jeder Stufe hinzufügt: „Aber jenes angenehme Gefühl, das in mir aufstieg, drang nicht in meinen Geist ein und blieb nicht dort“.{37} Dies lässt vermuten, dass die zunehmend verfeinerten und angenehmen Erfahrungen nicht verabsolutiert wurden, und der Buddha seine ausgeglichene und forschende Herangehensweise an seine Erfahrungen beibehielt. Seine Verwirklichungen begannen erst dann, als „mein konzentrierter Geist auf solche Weise geläutert, klar, makellos, von Unvollkommenheit befreit, formbar, geschmeidig, beständig und zur Unerschütterlichkeit gelangt war“{38}: eindeutig ein hochgradig integrierter Zustand.

      Die Verwirklichungen des Buddha werden dann in Form der „drei Schauungen“ erläutert, die jeweils einer von drei Nachtwachen zugeordnet sind. Diese bestehen aus „Wissen von der Erinnerung an frühere Leben“, „Wissen vom Sterben und Wiedererscheinen der Wesen“ und „Wissen von der Auslöschung der Befleckungen“.

      „Frühere Leben“ werden natürlich normalerweise kosmologisch interpretiert: als Buddhas Erinnerung an alle früheren biologischen Leben in einer Folge von Wiedergeburten. Doch genau wie das Leben des Buddha als solches nicht historisch sein muss, um wertvoll für die Entwicklung von Einsicht zu sein, ist es auch ohne Belang, wann diese früheren Leben stattgefunden haben. Es ist auch unerheblich, ob es sich um biologische Wiedergeburten oder psychische Erfahrungen zyklischer Prozesse innerhalb eines Lebens handelt. Wichtig ist, dass der Buddha aus seinen früheren Erfahrungen gelernt hat. Jhana kann einen durchaus unerwartet mit Erfahrungen aus der Vergangenheit in Kontakt bringen, vielleicht, weil über bisher nicht genutzte synaptische Verbindungen ein neuer Zugang für Energie entsteht. Der Buddha konnte seine vergangenen Erfahrungen Revue passierten lassen und das bot ihm eine großartige Reflexionsquelle (wie ein Wissenschaftler es ausdrücken könnte, eine große Datenmenge). Über diese Informationen nachzudenken half ihm zu erkennen, in welcher Weise das Verharren in begrenzten Anschauungen ihn in einem Kontext sich verändernder Bedingungen einschränkte oder schädigte. Es zeigte auch, wie er in der Lage gewesen war, auf dem Pfad einen Schritt voranzugehen, indem er die Verabsolutierung von Annahmen in diesen vergangenen Situationen vermieden hatte und in der Lage war, seine Reaktion in die Rahmenbedingungen zu integrieren. Über unsere früheren Erfahrungen nachzudenken kann uns in ähnlicher Weise dabei helfen, den Mittleren Weg zu verstehen.

      Natürlich hatte er nicht nur die Erfahrungen aus seinem eigenen früheren Leben, sondern auch die aus denen anderer. Es ist nicht notwendig, Siddhartha Allwissenheit zuzuschreiben, die es ihm ermöglichen würde, „das Sterben und Wiedererscheinen aller Wesen“ zu sehen, um die Bedeutung der zweiten Nachtwache für uns zu erkennen. Alles, was der Buddha tun musste, war zu erkennen, wie die ihm bereits bekannten Personen, in größerem oder kleinerem Umfang, auf dem Pfad vorangekommen zu sein schienen. Wenn sie sich voran bewegten, erkannte er, dass dies auf die Überwindung von Verabsolutierung und das sich Beschäftigen mit Rahmenbedingungen zurückzuführen war. Der Mittlere Weg gab ihm einen neuen Schlüssel zur Geschichte, versetzte ihn (und uns) in die Lage, über eine Beziehung zur Geschichte in Form von leidenschaftslos zusammengetragenen oder ideologisch angeeigneten Fakten hinauszugehen. Stattdessen war er in der Lage, vergangene Ereignisse als reichhaltige Datenquelle über die Art von Zuständen und Überzeugungen zu erkennen, die dazu beitragen, den Bedingungen gerecht zu werden und solche, die dies nicht tun.{39} Wenn wir zudem unseren Unsicherheitsgrad in Bezug auf vergangene Ereignisse anerkennen, können wir daraus niemals die Art von Gewissheit über ein Karma-Gesetz herleiten, die die bisherige buddhistische Tradition zu besitzen vorgegeben hat. Wir können aber die Leben aller Wesen nutzen, um sowohl ein sich entwickelndes Verständnis der besten Wege wie Menschen im Allgemeinen mit Bedingungen umgehen können zu prägen und auch zu bestärken.

      Die „Befleckungen“ (Asavas), auf die im Zusammenhang mit Buddhas drittem „Wissen“ in der dritten Nachtwache Bezug genommen wird, sind Genusssucht, Gier nach Existenz und Ansichten.{40} Diese stehen in engem Zusammenhang mit den bereits besprochenen Merkmalen des Mittleren Wegs. „Begierde“ (Kamsava) als eine Befleckung kann leicht als die Verabsolutierung des Begehrens (einschließlich Hass und Angst, die umgekehrtes Begehren sind) verstanden werden. Die Begierde nach uns selbst oder nach anderen Menschen oder Dingen, „zu existieren“ oder „nicht zu existieren“ (Bhavasava) kann als die grundlegendste Form von Verabsolutierung angesehen werden. „Ansichten“ (Ditthasava) können leicht als verabsolutierte Überzeugungen interpretiert werden.

      Die eigentliche Idee des „Wissens“ kann vorläufig oder absolut formuliert werden. Ist „Wissen“ eine Darstellung dessen, wie die Dinge wirklich sind (in diesem Fall wäre es absolut), oder ist es lediglich eine vorläufige Darstellung? Eine vorläufige Darstellung unterliegt anerkanntermaßen begrenzenden Annahmen, Modellen und Metaphern, die zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort entwickelt wurden, wobei allerdings Universalität angestrebt wird, soweit sie nachvollziehbar ist. Im allgemeinen Sprachgebraucht wird „Wissen“ manchmal als vorläufig verstanden, häufiger jedoch als absolut angenommen. In seiner gebräuchlichsten philosophischen Definition als „gerechtfertigte wahre Überzeugung“ bekräftigt es die allgemeine Annahme, dass „Wissen“ als wahr bestätigt. In Hinblick auf unser Verständnis des Mittleren Wegs ist es jedoch von entscheidender Wichtigkeit, eine Unterscheidung zu treffen, damit allgemeine, aber vorläufige Ansprüche nicht zu absoluten abgleiten. Sie haben dies zu oft getan, auch in der buddhistischen Tradition. In meiner Entwicklung der Philosophie des Mittleren Wegs habe ich es aus diesem Grund vermieden, den Begriff „Wissen“ in der Bedeutung von vorläufiger Überzeugung zu verwenden.{41} Ich würde behaupten, dass die Einsichten des Buddha beim Erwachen am besten als gerechtfertigte allgemeine Überzeugungen beschrieben werden können. Alles, darüber hinaus noch Stärkere, beginnt die Einsichten an sich zu untergraben.

      Die entscheidende Einsicht des Buddha beim Erwachen ist also die der Bedingungen und der Notwendigkeit, ihnen entgegenzutreten. Dies spiegelt sich auch in der alternativen Darstellung von Buddhas Erwachen wider, die sich auf seine Erkenntnis der zwölf Nidanas oder Glieder des abhängigen Entstehens konzentriert.{42} Auf die Interpretation der buddhistischen Lehren zum abhängigen Entstehen werde ich in Kapitel 6.a näher eingehen. Für den Moment ist es jedoch am wichtigsten, die Beziehung zwischen dem Mittleren Weg und den Bedingungen gerecht zu werden zu verstehen, ohne einen absoluten Glauben an die Bedingtheit als kosmisches Gesetz.

      Wir setzen uns am wirksamsten mit den Bedingungen auseinander, indem wir Verabsolutierungen vermeiden, einschließlich – als wichtiges Beispiel – des Selbst (Thema einer dritten kanonischen Darstellung des Erwachens{43}). Wir werden allgemein bessere Ergebnisse erzielen, indem wir uns mit diesen Bedingungen auseinandersetzen, als wenn wir in Illusionen verharren. Wir kreieren Illusionen, indem wir einen bestimmten, begrenzten Zustand verabsolutieren und davon ausgehen, dass sei schon alles. Eine pauschale Behauptung über die menschliche Situation kann jedoch immer als vorläufig interpretiert werden. Wir erkennen an, dass dies bisher der Fall zu sein scheint, aber, dass wir nicht über alle möglichen Informationen über alle menschlichen Lebenslagen verfügen und daher keine Gewissheit darüber haben.

      Auf der anderen Seite wird Bedingtheit oft absolut interpretiert, was zu Konflikten mit der eigentlichen Handlungsweise auf dem Pfad führt, auf den uns die Doktrin drängt. Absolute Interpretationen der Bedingtheit sind meist deduktiv. Sie beginnen mit einer allgemeinen Behauptung darüber, wie Bedingtheit funktioniert, wobei sie diese auf Grund der Autorität buddhistischer Tradition akzeptieren, aber unsere Rolle bei der Interpretation der Tradition ignorieren. Daraus leiten sie dann andere allgemeine Behauptungen darüber ab, was wir glauben oder wie wir handeln sollten. Der Glaube an ein Karma-Gesetz, das sicherstellt, dass Menschen immer von guten Taten profitieren oder für schlechte leiden werden, ist ein Beispiel für solch eine absolute Ableitung aus einem Verständnis von Bedingtheit. Die Wiedergeburt ist wiederum eine weitere Ableitung aus dem Karma, die erforderlich ist, um karmische Wirkungen konsistent zu halten, wenn sie nicht innerhalb eines Lebens eingetreten sind.

      Angenommen, Sie übernehmen die allgemeine Behauptung, dass sich mit den Bedingungen auseinanderzusetzen zu besseren Ergebnissen führt, als es nicht zu tun. Angenommen, Sie folgern dann daraus, dass es