Robert M. Ellis

Buddhas Mittlerer Weg


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Kontext, für ein breiteres Bewusstsein, das jenseits der Annahmen des Kontexts entsteht. Dennoch ereignete sich die Episode nicht im Wald, sondern im Palast. Es wird deutlich, dass der Palast nicht mehr ganz so absolut abzulehnen ist, wie zuvor. In gewisser Weise erlaubte Siddharthas Leben dort zeitweise eine Auseinandersetzung mit Bedingungen, mit denen er sich während seines Lebens im Wald nicht auseinandersetzte. Die Rosenapfelbaum-Episode wird so zu einem einenden Moment, jenseits der Annanahmen, die entweder mit dem Palast oder dem Wald verbunden sind. Dort können breitere Erfahrungen gesammelt werden, um neuen Bedingungen gerecht zu werden. Dieses vereinende Moment wird zum Tor der Erkenntnis des Mittleren Wegs.

      f. Die Entdeckung des Mittleren Wegs

      Das konkrete Entdecken des Mittleren Wegs lässt sich möglicherweise nicht einfach auf einen Moment des Erkennens reduzieren. Wenn es einen guten Kandidaten für einen solchen Moment im Pali-Kanon gibt, folgt er unmittelbar auf Siddharthas Erinnerung der Jhana-Erfahrung unter dem Rosenapfelbaum. Der Text geht dann weiter:

      „Könnte das der Pfad zur Erleuchtung sein?“ Dann, im Anschluss an diese Erinnerung, kam die Erkenntnis: „Das ist der Pfad zur Erleuchtung.“{24}

      In Hinblick auf den universellen Wert der Geschichte ist dies der wichtigste Punkt, nicht die Erleuchtung selbst. Sie bietet ein Erkennen der Natur des Pfades und weniger eine Behauptung über das Ziel. Der Pfad ist etwas, das wir alle in jedem Augenblick beurteilen und neu beurteilen müssen, das Ziel lediglich eine abstrakte Vorstellung des Zwecks, ihn zu beschreiten. Entscheidend ist, dass Siddhartha den Pfad erkennt, bevor er behauptet, das Ziel erreicht zu haben. Das macht deutlich, dass der Pfad nur insofern vom Ziel abhängig ist, als das Ziel zu einem Symbol für den Pfad wird. Das Ziel sagt uns nicht, in welcher Richtung der Pfad verlaufen soll. Der Pfad kann auf Grund seines universellen Charakters in der Erfahrung jedes Einzelnen immer nur darin bestehen, die Umstände zu beurteilen, in denen wir uns befinden, wie auch immer sie sind. Dieser Pfad kann auch dann beschritten werden, wenn das betreffende Individuum noch keine abschließenden Vorstellungen des Ziels hat. Alles, was man braucht, sind praktische Vorstellungen über den Weg selbst.

      Oberflächlich betrachtet klingt die obige Passage jedoch so, als bestehe der Weg nur in der Jhana-Erfahrung. Würde man dies annehmen, wäre es leicht, den Schluss zu ziehen, der Pfad bestehe nur aus Aufstieg durch Jhanas bis man das Erwachen als eine Art Super-Jhana erlangt. Die Rolle der „höheren Jhanas“ in Bezug auf Alara Kalama und Udaka Ramaputta zu Beginn der Geschichte, könnte diese Art der Interpretation ebenfalls gefördert haben. Man könnte sich vorstellen, dass Siddhartha an seinen Lehrern (die nur die höheren Jhanas erreicht haben) vorbeisauste, um das Rennen zum endgültigen Ziel vor ihnen zu gewinnen. Doch all dies würde dazu führen, bestimmte Elemente der Geschichte zu verabsolutieren, während ihre universellere Bedeutung verloren ginge. Der Pfad ist jedem zugänglich und bietet einen Weg vorwärts, wo auch immer man sich befindet. Nicht jeder ist in der Lage, auch nur die niederen Jhanas zu erreichen, geschweige denn die höheren zu übertreffen. Wir dürfen die spezifischen Merkmale des Pfads von Siddhartha nicht mit dem Pfad an sich verwechseln, den die Geschichte auf breiterer Ebene symbolisiert.

      Ich habe bereits erörtert, dass die Art und Weise, in der Siddhartha seine beiden spirituellen Lehrer übertrifft, vielmehr in der Art und Weise begründet liegt, wie sie ihre Errungenschaften verabsolutieren. Sie glauben, diese seien schon alles oder die Gesamtheit des Pfades. Die Erinnerung an die frühere Jhana-Erfahrung unter dem Rosenapfelbaum ist folglich in anderer Weise bedeutsam, denn sie verschafft Siddhartha ein breiteres, fundierteres Bewusstsein. Dieses Bewusstsein ermöglicht es ihm, damit aufzuhören, die Annahmen der Askese zu verabsolutieren. Er hat nun erkannt, dass es das Bewusstsein ist, das uns befähigt, über Verabsolutierung hinauszugehen. Jhana ist eine Quelle zunehmend integrierten Bewusstseins, aber es ist kein dauerhafter Zustand: Vielmehr wird es in der Meditation erlangt und geht danach verloren, sobald man sich wieder mit anderen Aktivitäten außerhalb der Meditation beschäftigt. Jhana ist also ein sehr nützlicher Zustand für Siddhartha, den es zu kultivieren gilt, um Verabsolutierung zu vermeiden – aber es ist nicht der einzig mögliche Weg, Verabsolutierung zu vermeiden. Nicht einmal das Erreichen des allerhöchsten Jhana-Zustands garantiert, dass er nie wieder verabsolutieren wird. Jhana ist wichtig für seinen individuellen Pfad und es mag für viele andere wichtig sein, aber es ist kein wesenhaftes Kennzeichen des Pfads im Allgemeinen und nicht bestimmend für den Pfad.

      Siddharthas Erkennen des Pfads ist zugleich ein Erkennen des Mittleren Wegs angesichts der Wesensart der ihm vorangegangenen Geschichte. Der eingeschlagene Pfad besteht nicht in einer Rückkehr zu den Werten des Palasts. Dennoch übernimmt dieser eine Erfahrung, die er im Palastumfeld gemacht hat, als wertvoll, ebenso wie dessen positive Bewertung des Vergnügens. Der Pfad, den er gefunden hat, vermeidet zudem die Verabsolutierung der Werte des Waldes, sowohl die seiner spirituellen Lehrer als auch die der Askese, behält aber dennoch den umfassenderen Wert der spirituellen Suche bei, die der zentrale Wert des Waldes ist. Der Mittlere Weg besteht hier also im Kern darin, Verabsolutierung auf beiden Seiten zu vermeiden. Er sucht einen Pfad, der eine differenzierte Haltung gegenüber dem einnimmt, was bei widerstreitenden Glaubensinhalten hilfreich ist, ohne sie gänzlich zu übernehmen.

      Der Gegensatz zwischen dem Palast und dem Wald mag eine symbolische Tragweite haben, die weit über den Kontext des Buddha hinausreicht. Er bietet jedoch keine vollständige Lösung für alle verabsolutierenden Gegensätze, die im menschlichen Leben möglicherweise auftreten, sondern ist vielmehr ein Beispiel für einen solchen Gegensatz. Er trägt auch dazu bei, einige Strukturelemente verabsolutierender Gegensätze darzulegen und zu zeigen, wie man sie vermeiden kann. Das Beispiel darf nicht als universelle Aussage über den Mittleren Weg missverstanden werden. Dies wird nicht nur aufgrund der Abhängigkeit vom besonderen Kontext des Buddha deutlich, sondern auch aufgrund der Interpretationsprobleme, die durch den Palast und den Wald aufgeworfen werden. Steht der Palast für soziale Konventionen oder für individualistische Genusssucht? Diese könnten in einem anderen Kontext, in dem Askese zur allgemeinen Pflicht geworden ist, leicht miteinander in Konflikt geraten. Steht der Wald für die Verabsolutierung bestimmter religiöser Erfahrungen oder für die Autorität religiöser Lehrer oder für Askese? Wiederum könnten diese miteinander in Konflikt stehen, z.B. wenn ein einflussreicher religiöser Führer ein wortgläubiger Fundamentalist wäre, der es verböte, Erfahrungen Vertrauen zu schenken. Es ist nicht immer klar, wofür Palast und Wald stehen und auch nicht, dass sie wirklich voneinander abhängig sind. Es wäre sehr einfach, dem Palast religiöse Motive zuzuschreiben oder eine königliche Förderung einzuführen, um den Wald zu korrumpieren.

      Was hingegen klar ist, ist, dass in Siddharthas Bewusstsein zum Zeitpunkt, als er seine Urteile fällte, Palast und Wald Werte repräsentierten, die miteinander in Konflikt standen. Er entwickelte ein Modell, sich an den Mittleren Weg anzunähern, das jeder andere Mensch in einer ähnlichen, von absoluten Werten verschlungenen Lage anwenden könnte. Zuerst löste er sich von diesem Kontext, um das Gegenteil offen anzunehmen, aber er blieb sich andererseits auch der Grenzen jenes Gegenteils kritisch bewusst und nutzte dies, um auf eine hilfreichere und adäquatere dritte Option hinzuarbeiten. Um sich der Grenzen des Gegenteils bewusst zu werden, erwies sich zudem eine Rückbesinnung auf die Stärken der ersten Werteordnung als entscheidend.

      Solch eine Strategie, die auf diese Weise entwickelt wurde, kann auf alle möglichen, offensichtlich sehr unterschiedlichen Szenarien übertragen werden, über die gesamte Bandbreite menschlicher Erfahrung hinweg. Lassen Sie mich einige Beispiele anführen:

       Ein Alkoholiker kämpft mit einer Sucht, in der der absolute Wert Alkohol den Lebenssinn übernimmt. Er geht fort in ein Reha-Zentrum, wo er „trocken wird“ und eine andere Sichtweise auf die Motive seiner Sucht gewinnt. Das Reha-Zentrum ist für ihn hilfreich, aber es stützt sich auf ein medizinisches Modell. Erst wenn er aufhört, von diesem Modell abhängig zu sein und mehr Eigenverantwortung für seine Genesung übernimmt, beginnt er, auf lange Sicht Wege aus dem Alkoholismus zu finden.

       Ein Mädchen, das in einer konservativen muslimischen Familie aufgewachsen ist, läuft weg und stürzt sich in ein Leben, in dem sie alles durch ihre Erziehung Verbotene genießt: allein leben, trinken, in Nachtclubs gehen, eine Vielzahl sexueller Beziehungen, atheistische Bücher lesen, usw. Nach einigen