Robert M. Ellis

Buddhas Mittlerer Weg


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so interpretieren, erhalten wir ein Bild von universeller Relevanz und vollständiger Flexibilität.

      Das vierte Zeichen fügt auch ein Element hinzu, das in den Drei Erkenntnissen nicht vorhanden ist – eine Alternative. Nur wenn wir eine Alternative zu den begrenzten zuvor erwogenen Optionen haben, können wir darüber hinausgehen. Wenn wir uns vorstellen, Siddhartha nähme nur die Begrenztheit seiner Annahmen über Jugend, Gesundheit und Leben wahr, ohne eine Alternative Sichtweise zu haben, könnte das Ergebnis lediglich ein Gefühl sein, in der Falle zu sitzen. Negative Gefühle gegenüber unseren Annahmen zu haben, ohne einen Ausweg daraus, könnte quälend sein. In genau diesem Zustand sind wir oft gefangen, wenn wir mit einer Sichtweise unzufrieden sind, die unseren Bedürfnissen nicht mehr gerecht wird. Unsere Erfahrung oder Vorstellungskraft kann dann zu begrenzt sein, um uns über die bloße Verneinung dieser Sichtweise hinauszuführen. Denken Sie an einen religiösen Gläubigen, dessen ganzes Leben auf absoluten Überzeugungen gründete, der dann aber „seinen Glauben verliert“, nicht mehr länger in der Lage ist, diese Überzeugungen aufrechtzuerhalten. Er könnte zu denken anfangen, Gott sei theoretisch unmöglich und absurd. Gleichzeitig aber kann er ohne Gott nur Nichtigkeit sehen – ein Leben ohne die einzige Art von Bedeutung, die er bisher erfahren konnte. Infolgedessen fühlt er sich vor die Wahl gestellt, entweder an einem Glauben festzuhalten, den er intellektuell betrachtet für bankrott hält, oder ihn für eine Welt der Sinnlosigkeit aufzugeben. Welch grausames Los! Aber eins, das nur durch unsere falsche Beschränkung auf zwei gegensätzliche Möglichkeiten (eine Sichtweise und ihre Verneinung) und das Unvermögen, die Möglichkeit der Existenz dritter Optionen auch nur in Betracht zu ziehen, verursacht ist.

      Glücklicherweise hat der Buddha eine dritte Option zwischen einem Weiterleben in den allseitigen Zwängen der Palast-Sichtweise und der potenziellen Nichtigkeit, die jenseits des Palastes liegen könnte. Diese dritte Option wird durch die vierte Sichtweise offengelegt:

      Als er in den Lustgarten gefahren wurde, sah Prinz Vipassi einen kahlköpfigen Mann, einen, der fortgegangen war, in einer gelben Robe. Und er sagte zum Wagenlenker: „Was ist mit diesem Mann los? Sein Kopf ist nicht wie der anderer Männer und seine Kleidung ist nicht wie die anderer Männer.“

      „Prinz, man nennt ihn einen, der fortgegangen ist.“ „Warum nennt man ihn einen, der fortgegangen ist?“

      „Prinz, mit einem, der fortgegangen ist, meinen wir einen, der wahrhaft dem Dhamma folgt, wahrhaft Gelassenheit lebt, gute Handlungen ausführt, verdienstvolle Taten vollbringt, harmlos ist und wahrhaft Mitgefühl für lebende Wesen hat.{10}

      Es ist der bloße Unterschied zwischen dem Shramana und dem ihm zuvor Bekannten, der das Interesse des Prinzen weckt. Er sieht anders aus und sein andersartiges Aussehen deutet auf einen abweichenden Lebensstil mit abweichenden Annahmen hin. Im alten Indien dürfte dieser Unterschied weit mehr als nur eine andere Berufswahl gewesen sein, vielmehr ist es ein grundlegender Unterschied in Tradition und Kultur. Die Tradition, als hausloser Wanderer fortzugehen, wurde oft mit Urvölkern im alten Indien in Verbindung gebracht – denjenigen, die den dominanten Eindringlingen vorausgingen, von deren Nachkommen Siddhartha Gautama möglicherweise abstammt. Was auch immer die historische Erklärung für kulturelle Unterschiede zwischen Siddharthas Hintergrund und dem des Shramana sein mag, was zählt ist die erstaunliche Tiefe der kulturellen Kluft. Heute wäre möglicherweise die naheliegendste Analogie der Spross eines Mitglieds der sozioökonomischen Elite, der aus Oxford oder Harvard „aussteigt“ und sich einer Gemeinschaft schäbiger Landstreicher anschließt.

      Neben der kulturellen Kluft gibt es jedoch auch eine Idealisierung der Shramanas. Was immer dieser Mann macht, er macht es „wahrhaft“. Er wird nicht als eine Person gesehen, die einen Entwicklungsprozess durchläuft, der darauf abzielt, besser und argloser zu sein, sondern einfach als eine absolute Verkörperung von Tugend und Mitgefühl. Die Idealisierung findet sich nicht nur in den Worten des Wagenlenkers, sondern auch in der Eilfertigkeit, mit der Siddhartha hierauf beschließt, denselben alternativen Lebensstil anzunehmen. Obwohl also der Shramana eine echte Alternative bietet, ist es eine idealisierte Alternative. Im Fortgang der Geschichte werden wir sehen, welche weiteren Beschränkungen durch diese Idealisierung entstehen und wie Siddhartha sie überwindet.

      Während Siddhartha dieses alternative Leben wählt, indem er aus dem Palast in den Wald „fortgeht“, entwirft er bereits implizit die Vorstufen zur Auseinandersetzung mit dem Mittleren Weg. Er tut dies, obwohl der Mittlere Weg noch nicht explizit Teil seines Denkens ist. Denn der Mittlere Weg beginnt, wo auch immer wir anfangen, und er ist der hilfreichste Pfad, der vor uns liegt. Es mag unmöglich sein, direkt vom Erkennen der Begrenzungen einer Reihe von Annahmen zu einer ausgewogenen Position zu gelangen, in der wir auch die Begrenzungen des Gegenentwurfs sehen. Wir müssen uns von der ersten Palette absoluter Annahmen befreien, bevor wir die zweite mit gegensätzlichen überhaupt klar genug verstehen können. Um uns auf den Mittleren Weg einzulassen, müssen wir also vermutlich damit beginnen, vom anfänglichen Kontext mit all seinem Ballast absoluter Annahmen „fortzugehen“. Dabei ist es schwierig, die Alternative nicht zu idealisieren, weil alle Erwartungen auf ihr lasten.

      In Ashvaghoshas erweiterter Fassung des „Fortgehens“ wird der Konflikt auf Grund absoluter Annahmen auf beiden Seiten durch einen zusätzlichen moralischen Konflikt betont. Es wird verdeutlicht, dass Siddhartha durch sein „Fortgehen“ seine Frau und seinen kleinen Sohn im Stich ließ sowie seine Eltern und zukünftige Pflichten. Siddharthas Wagenlenker, Chanda, erinnert ihn an diese sozialen Verantwortlichkeiten und versucht erfolglos, ihn davon abzuhalten, dem weltlichen Leben zu entsagen.{11} Dies bringt heutige Lesende, die sich voll und ganz mit Siddhartha als Helden identifizieren wollen, oft in moralische Konflikte, da er ein für viele heutige Lesende zentrales moralisches Tabu gebrochen hat. Die alten Inder mögen seine Familie zu verlassen, nachsichtiger beurteilt haben (vorausgesetzt, sie wurden von anderen Verwandten versorgt), vor allem, weil sie „Fortgehen“ demgegenüber idealisierten. Für heutige Lesende, die sich schwertun, den universellen, spirituellen Helden zu finden, den sie in solch einer präfeministischen Figur suchen – offensichtlich konsultiert er nicht einmal seine Frau, um ihre Unterstützung und Zustimmung zu erhalten, bevor er sie verlässt - dürfte dies jedoch ein schwacher Trost sein

      Es gibt aber eine weitere Lesart des Fortgehens, die diesen Wunsch, Siddhartha zu idealisieren, loslässt. Bei dieser Lesart muss Siddhartha nicht perfekt sein und somit müssen wir seine Fehler nicht wegrationalisieren. Er findet Wege nach vorn, die unweigerlich verworren und unbefriedigend sind, und die Opfer vielerlei Art erfordern. Aber genau in der Verworrenheit dieses Prozesses liegt die Universalität des Mittleren Wegs. Siddhartha stellt in Frage, was er bisher für absolut hielt – die Werte des Palastes. Er hat sein ganzes Leben lang auf diese Werte gesetzt. Um sich von der absoluten Macht dieser Werte zu befreien, muss er das Extrem der Loslösung wählen. Vielleicht können wir uns andere mögliche Wege vorstellen, die er hätte einschlagen können, die kompromissorientierter gewesen wären. Wäre es so schwierig gewesen, vorerst im Palst zu bleiben, während er Alternativen kennenlernt und sogar seine Macht im Palast nutzt, um schrittweise seine Werte zu verändern? Aber wahrscheinlich hätte Siddhartha dies nicht praktisch umsetzen können. Stattdessen würde seine psychische Gewöhnung an die Werte des Palastes ihn weiterhin beherrschen. Nur durch seine Flucht und zunächst, indem er das Extrem gegensätzlicher Werte ausprobiert, kann er verhindern, in die alles verzehrende, absolute Umgebung, die ihn umgibt, hineingezogen zu werden. Um wegzukommen, muss er Opfer bringen, selbst solche, die sich auf andere auswirken, und es kann sich durchaus als Fehler erweisen oder als etwas, das man später bereut. Alles, was wir also tun können, ist zu versuchen, die Gesamtheit der Bedingungen zum Zeitpunkt unseres Urteils zu berücksichtigen. Wenn wir nur einer starren moralischen oder sonstigen Regel folgen, könnten wir wichtige Bedingungen außer Acht lassen.

      Ein universeller Wert, den die Vier Zeichen vermitteln, ist Vorläufigkeit. Wenn unsere Urteile nur vorläufig sind, können wir eine kritische Sichtweise auf unsere gewohnheitsmäßigen Annahmen einnehmen (wie durch die Drei Erkenntnisse verdeutlicht). Entscheidend ist jedoch, dass wir auch neue Alternativen erkennen und in Betracht ziehen können (wie durch das Vierte Zeichen verdeutlicht).

      Indem Siddhartha über einen verabsolutierenden Kontext hinausgeht, in dem er gezwungen wäre, in der alten Weise zu denken,