Robert M. Ellis

Buddhas Mittlerer Weg


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Skepsis, mit der wir unseren fehlbaren, menschlichen Status anerkennen und so die Gewissheiten in Frage stellen, die wir nur übernommen haben, weil wir diese Fehlbarkeit in der Vergangenheit ignoriert haben. Dazu gehört auch die Integration, die eigentliche Konfliktbewältigung, indem wir über festgefahrene Positionen hinausgehen, entweder bei uns oder anderen. Fest verwurzelte Spaltungen zu beseitigen ist relativ einfach, wenn wir bereits zivilisierte Bedingungen für Dialog und Reflexion geschaffen haben. Es ist sehr viel schwieriger, wenn wir durch die Macht einer Gruppe gefangen sind, die enormen Druck auf uns ausübt, damit wir weiterhin in einer bestimmten absoluten Weise, in Übereinstimmung mit ihren Werten denken. Der erste Schritt zur Integration muss darin bestehen, uns von den Werten dieser Gruppe so weit zu trennen, dass ein breiteres Bewusstsein entstehen kann. In dieser Phase hat Siddhartha sowohl in Hinblick auf seine Skepsis als auch auf seine Integration noch Wegstrecke vor sich, aber er beginnt, sie implizit zu erkennen und anzuwenden.

      Dieser erste Schritt ist wahrscheinlich der schwierigste und riskanteste des Mittleren Wegs. Er macht uns anfällig für Frustration, Ablehnung, Spott, moralische Ächtung oder fast jede Strafe, die uns die Gruppe auferlegen kann. Es ist zugleich der schwierigste Schritt, sich sicher oder gelassen zu fühlen, wenn wir ihn gehen, weil wir immer noch von absolutem Denken herumgeschubst werden. Wir haben vielleicht nur ein schwaches und vorläufiges Bewusstsein unserer umfassenderen Erfahrung.

      Es gibt aber immer einige Mutige, die bereit sind, diese ersten Schritte zu gehen. Denken Sie an den Whistleblower, der Korruption in einer großen und mächtigen Organisation aufdeckt. Denken Sie an den Priester, der die Grundannahmen seiner Kirche zu überprüfen beginnt und riskiert, seinen Gläubigenstatus zu verlieren, den er sich während seines ganzen Lebens und seiner Karriere aufgebaut hat. Denken Sie an den Junioroffizier, der beschließt, Befehle zu missachten, auf die Gefahr hin, wegen Hochverrats hingerichtet zu werden. Diese Menschen sind sich weder bewusst, Helden zu sein, noch wissen sie, dass es gut ausgehen wird. Dennoch gehen sie Risiken ein – sie blicken über den eigenen Tellerrand hinaus und wagen es, anders zu denken. Auf diese Weise bleiben sie mit dem Kern moralischer Motivation verbunden, auch wenn sie Regeln missachten. „Fortgehen“ kann für all das stehen, wenn wir unseren Geist für diese Inhalte öffnen, und sie nicht nur für Handlungen des zur Erleuchtung vorbestimmten Buddhas halten. Man sollte das „Fortgehen“ lieber als Fehler betrachten, als es im Nachhinein zu rechtfertigen, denn seine Hauptbedeutung liegt in der Bereitschaft, Fehler zu machen.

      d. Der Wald: Spirituelle Lehrer

      Der „Wald“ repräsentiert die unkultivierten, unzivilisierten Gebiete, die im alten Indien offensichtlich wesentlich ausgedehnter waren als heute. Wenn man sich nun im Wald aufhält, beginnt man, sich jenen Erfahrungsbereichen zu stellen, die zuvor von kultivierten Konventionen und Annahmen verdrängt wurden. Der Wald wird oft mit Angst assoziiert – vor wilden Tieren, Verhungern, Orientierungslosigkeit. Daher ist er auch der beste Ort, um seinen Ängsten zu begegnen sowie zu beginnen, diese zu integrieren{12}. Diejenigen, die „fortgehen“ in die „Hauslosigkeit“, sollten die Möglichkeit schaffen, die üblichen Annahmen der menschlichen Gesellschaft hinter sich zu lassen. Zusammen mit diesen schwinden Sicherheit und Schutz der von der Gesellschaft geschaffenen Umwelt, auch wenn sie de facto nahe genug bei menschlichen Behausungen bleiben müssen, um Nahrung zu erhalten.

      Es gibt heutzutage vielfältige Möglichkeiten, wie Menschen in den „Wald“ „fortgehen“, um gleichermaßen Befreiung von sozialen Vorgaben zu erlangen und dadurch ihr Bewusstsein über die Grenzen ihres sozialen Kontexts hinaus zu erweitern. So gibt es Wildnis-Erfahrungen und -Entdeckungsreisen, individuelle und gemeinschaftliche Retreats, Wanderungen und Pilgerreisen – ob lang oder kurz, „religiös“ oder „säkular“. Religiöse Gebäude wie Kirchen, Moscheen und Tempel erinnern in ihrer Konstruktion und Raumnutzung oft an den Wald. Sie bieten Inseln der Besinnung inmitten der obsessiven Atmosphäre moderner Städte. In gewisser Weise können Museen, Kunstgalerien, Gärten und Parks die gleichen Möglichkeiten bieten. Sogar Zuhause kann ein Meditations- oder Gebetsraum, ein Arbeits- oder Schlafzimmer einen Raum schaffen, in dem der Druck sozialer Erwartung und Glaubensvorstellungen vorrübergehend aufgehoben werden kann. Wir können in größerem oder kleinerem Rahmen fortgehen, anfangs vielleicht zur Entspannung. Durch Entspannung wird jedoch die Vorstellungskraft wiederhergestellt und wieder geöffnet und es können alternative Sinngehalte entstehen, so dass wiederum alternative Überzeugungen möglich werden.

      Siddhartha Gautama ging jedoch sehr entschlossen und idealistisch in den Wald fort. Anstatt sich vorübergehend dorthin zu begeben, um eine andere Perspektive auf sein übliches Leben zu gewinnen, gab er dieses frühere Leben vollständig auf:

      … Obwohl meine Mutter und mein Vater es sich anders wünschten und heftig weinten, rasierte ich mir Haare und Bart ab, zog die gelbe Robe an und ging fort aus dem häuslichen Leben in die Hauslosigkeit.{13}

      Dabei übernahm er eine Reihe kultureller Konventionen, die damals im alten Indien üblich waren: die der Shramanas. Die Shramanas eröffneten der übrigen Gesellschaft einen wertvollen Zugang zur sonst unterdrückten alternativen Perspektive jenseits der Normen, Konventionen und Verantwortlichkeiten des Haushaltslebens. Innerhalb der indischen Kultur stand (und steht) diese umfassende Sicht religiösen Lebens in einem Spannungsfeld zum brahmanischen Modell. Ein Brahmane ist ein Priester, der aus einer gesellschaftlichen Führungsposition heraus rituelle Dienste leistet. Das brahmanische Modell muss sich auf dogmatische Gewissheiten über eine natürliche Ordnung berufen, wobei passende hinduistische Rituale durchgeführt werden. Der Shramana ist hingegen in der Position, all diese Gewissheiten in Frage zu stellen. Zur Zeit Buddhas gab es offensichtlich eine große Vielfalt an Shramana-Schulen, die sehr unterschiedliche Theorien über religiöses Leben boten{14}. Dennoch ist es der Kontrast zwischen dem Lebensstil des Shramanas und des Haushälters an sich, der eine starke Dichotomie geschaffen hat. Diese Dichotomie zeigte sich sowohl im Umfeld des Buddha als auch im Modell religiösen Lebens, dass sich im frühen Buddhismus etablierte{15}. Indem Siddhartha in den Wald fortgeht, überwindet er die gewaltige Kluft zu einem alternativen und sehr viel offeneren religiösen Lebensstil.

      In diesem offenen Lebensstil, der nur durch eine individuelle Suche bestimmt war, stand es jedem Shramana frei, allein zu meditieren und zu reflektieren oder sich Gruppen anderer Shramanas anzuschließen. Unerfahrene Shramanas fühlten sich jedoch offensichtlich davon angezogen, die relative Sicherheit eines spirituellen Lehrers zu suchen. Ein Lehrer konnte dem frischgebackenen Aussteiger helfen, sich erfolgreich mit diesen neuen Bedingungen auseinanderzusetzen. Der Unterrichtsrahmen (und die Solidarität mit anderen Schülern) konnte aber auch im Kleinen die gleichen Bedingungen schaffen, die sie gerade in der Mehrheitsgesellschaft aufgegeben hatten, die in allen vergleichbaren menschlichen Lebenswelten anzutreffen sind: feste Führungs- und Gesellschaftsrollen, Annahmen und Konventionen, die von der Gruppe geteilt werden, und Fragen der Abgrenzung, wer in die Gruppe aufgenommen werden sollte. Diejenigen, die ihren ursprünglichen sozialen Kontext auf so entschiedene Weise verlassen, sind anfällig für neue Formen der Ausbeutung durch etwas, was wir heute „religiöse Sekte“ nennen würden. Das liegt daran, dass sie noch keine hinreichend verwurzelten alternativen Wege gefunden haben, um ihre menschlichen Bedürfnisse nach sozialer Unterstützung zu befriedigen.

      Dies ist der Handlungsrahmen, in dem wir die nächste Phase von Siddharthas Geschichte interpretieren müssen. Hier gibt es aufeinanderfolgende Begegnungen mit zwei spirituellen Lehrern, die (in den Pali-Fassungen) Alara Kalama und Udaka Ramaputta heißen. In der Darstellung des Pali-Kanons{16} werden die beiden Begegnungen in exakt den gleichen Worten beschrieben, der einzige Unterschied ist die von den Lehrern vertretene „Basis“: „Nicht-Sein“ bei Alara Kalama und „weder Wahrnehmung noch Nicht-Wahrnehmung“ bei Udaka Ramaputta. In beiden Fällen kommt Siddhartha zum betreffenden Lehrer auf der Suche nach Unterweisung darüber, wie man „das heilige Leben in diesem Dhamma und dieser Disziplin“ führt. Er lernt schnell über die jeweils vermittelten Lehren „aus dem Wissen und der Gewissheit heraus zu sprechen“. Dann erkennt er, dass die Lehrer mehr als das erreicht haben, sie haben „direktes Wissen“ der „Basis“, die sie lehren. Siddhartha erlernt dann auch dieses „direkte Wissen“ auf gleichhohem Niveau wie seine Lehrer. In beiden Fällen erkennt der Lehrer dies an und ehrt daraufhin Siddhartha, indem er anbietet, die Führung