Elke Schwab

Kullmann auf der Jagd


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sehe nur Ungereimtheiten.«

      »Du siehst Gespenster! Eduard Zimmer starb durch ein Projektil aus seiner eigenen Waffe. Es steckte in seinem Körper, weshalb wir es genau überprüfen konnten.«

      »Heißt das nicht, dass er aus großer Entfernung erschossen wurde?«

      »Nein. Der Schuss war aufgesetzt. Die Kugel blieb im Körper, weil sie auf einen Knochen prallte.«

      Die Vorspeisen wurden serviert.

      Schnur begutachtete den Inhalt seines Tellers, während er fragte: »Was hat Otto Siebert in einem Revier zu suchen, das ihm nicht gehört?«

      »Ein Mensch wird doch wohl noch im Wald spazieren dürfen. Er hatte ein schreckliches Erlebnis zu verarbeiten und wollte abschalten.«

      In einem sachlichen Ton fügte Schnur an: »Ich habe erfahren, dass es zwischen Zimmer und Siebert Rivalitäten gegeben hat. Deshalb wundere ich mich, dass er in seiner schwersten Zeit seine Entspannung ausgerechnet dort suchte, wo er genau das Gegenteil zu erwarten hatte.«

      »Du bist wirklich gut. Alles hinterfragen, nichts dem Zufall überlassen. Dich auf den Posten zu setzen war die richtige Entscheidung. Dir entgeht nichts.«

      »Deine Überzeugung ehrt mich. Würdest du diese Worte bitte vor Kriminalrat Forseti wiederholen?«

      Kullmann lachte.

      »Wie wurde der Tote geborgen?«, fragte Esther.

      »Mit einem Lichtmastkraftwagen mit Flutlicht«, antwortete Kullmann, rieb sich mit einer Serviette über das Kinn und schob die leere Suppenschale beiseite. Das Geschirr wurde abgeräumt. Erst als sich die Wirtin vom Tisch entfernte, fügte er sinnierend an: »War das ein Aufwand, ihn nach oben zu befördern.«

      »Das verstärkt meine Zweifel an Ottos Sieberts Darstellung der Ereignisse«, bekannte Schnur. »Zimmer hatte über Jahre hinweg das Wild von Sieberts Hessmühle auf das eigene Stück – auf den Limberg- getrieben und dort geschossen. Das gehört nicht zum waidgerechten Verhalten eines Jägers. Und dann findet Otto Siebert seinen Widersacher zufällig in einer Schlucht, die sonst nur mit einem Lichtmastkraftwagen zu erreichen ist.«

      »Deshalb bringt der damalige Staatssekretär des Innenministeriums und Leiter der Abteilung für Polizeiangelegenheiten einen Menschen um?«, hielt Kullmann dagegen. »Das ist nicht waidgerecht – und noch strafbar dazu. Otto Siebert ist Jurist. Er weiß, was Gerechtigkeit ist. Sollte ein Unbefugter auf sein Wild schießen, wird er schlauere Methoden anwenden, um es dem Kontrahenten beizubringen.«

      Schnur trank sein Bierglas in einem Zug leer. Kullmann hatte ihn zurechtgewiesen. Obwohl er inzwischen pensioniert war, er war immer noch ein schlauer Fuchs.

      »Du hast recht. Ich bin über das Ziel hinausgeschossen.«

      Kullmann schüttelte den Kopf und meinte: »Du gehst unvoreingenommen an den Fall heran. Das ist gut so. Wenn ich immer vor der Obrigkeit den Bückling gemacht hätte, wäre so mancher Fall nicht aufgeklärt worden. Also brauchst du dich nicht zu entschuldigen – im Gegenteil: Mach weiter so!«

      Die Hauptgerichte wurden serviert. Kullmanns Aufmerksamkeit galt seinem Rumpsteak in Pfeffersoße, Schnur probierte von seinen Schweine­filetspitzen in Rahmsoße. Eine Weile war nur das Klappern des Bestecks zu hören.

      »Ich beabsichtige ein Gespräch mit Otto Siebert. Er kann mich aufklären, wie er bei seinem verträumten Spaziergang zufällig die Leiche entdecken, dabei aber dessen Waffe übersehen konnte, deren Wert heute über zwanzigtausend Euro geschätzt wird.«

      »Otto Siebert hat keinen Grund, etwas zu stehlen. Er ist steinreich, wie ihr sehen werdet, wenn ihr ihm einen Besuch abstattet.«

      Kapitel 10

      »Wir nehmen deinen Wagen«, bestimmte Schnur.

      Esther schaute ihren Chef staunend an, stellte aber keine Fragen.

      Sie stiegen in den Suzuki Vitara. Jürgen Schnur übernahm das Steuer. Er fuhr durch die Kirchhofstraße bis das Schild »Oberlimberg« zu sehen war. Dort bog er rechts ab. Der schmale asphaltierte Weg schlängelte sich über den Berg, bis sie am höchsten Punkt des Limbergs ankamen, wo das kleine Dorf in voller Pracht glänzte. Schnur passierte das Restaurant Hostellerie Waldesruh. Diese Straße war eine Sackgasse. Esther schwante, warum er ihren Wagen wollte. Die Straße mündete in einen Waldweg, der zunächst steil in die Tiefe führte. Geschickt manövrierte Schnur das Auto durch die verschlungenen Wege. Er kannte sich hier gut aus. Inmitten der üppigen Vegetation tauchten plötzlich die Häuser des kleinen Ortes Itzbach auf. Wieder verließen sie die Zivilisation, rumpelten über den nächsten Waldweg, bis sie auf einen großen Häuserkomplex inmitten der Wildnis stießen. Rechts von ihnen offenbarte sich ein großer Schotterparkplatz, den Schnur ansteuerte. Sie standen direkt vor dem Restaurant Hessmühle. Die Gartenterrasse lag verwaist neben dem Haupteingang.

      Sie stiegen aus und betraten das Lokal. Sie standen in einer gemütlichen Pilsstube mit großem Kachelofen in der Ecke, aber kein einziger Gast saß dort. Eine Kellnerin eilte herbei.

      »Der Speiseraum befindet sich nebenan, wenn Sie essen möchten«, erklärte sie geschäftstüchtig.

      »Nein, danke! Wir wollen mit dem Besitzer sprechen«, erklärte Schnur und hielt seinen Polizeiausweis hoch. »Mit Otto Siebert.«

      »Mit wem?«, fragte sie so verdutzt, dass sie vergaß, wen sie vor sich hatte.

      »Ist Otto Siebert nicht mehr der Besitzer der Hessmühle?«

      »Nein … äh … ich weiß nicht. Mein Chef heißt anders.«

      Aus den hinteren Räumen kam ein weiterer Angestellter, dem es schließlich gelang, das Missverständnis aufzuklären.

      »Otto Sieberts Wohnhaus steht weiter hinten. Sie müssen den schmalen Weg links am Hotel vorbeifahren, dann stoßen Sie drauf. Sieberts Haus zu übersehen ist ausgeschlossen.«

      Das Hotel, das sie passierten, hatte die Bauweise eines lothringischen Bauernhauses, lang gezogen, die ehemalige Scheune farblich von der Fassade abgesetzt, der Stall als Garage umfunktioniert. Dicht daneben führte ein schmaler Weg vorbei.

      Schon nach wenigen Metern blieb ihnen die Luft weg vor Staunen.

      Otto Sieberts Anwesen war kein Haus, sondern ein Palast, der durch Größe und Baustil der Neuromanik schon auf den ersten Blick begeisterte. Fenster mit Rundbogen zierten die Front. In der Mitte prangte ein schwarzes Portal eingerahmt von marmornen Säulen und Treppenstufen in harmonisch abgestimmten Erdfarben. Jeweils rechts und links flankierten Rundtürme das Gebäude. Schwarze Ziegel glänzten in der Sonne, die weiß getünchte Front blendete gleißend hell. Die Auffahrt umgab ein Gelände so groß wie ein Fußballplatz. Jeder Meter war perfekt angelegt und gepflegt. Anstelle eines Zauns grenzten hohe Zypressen das Grundstück von der Außenwelt ab. Ein Gärtner war damit beschäftigt Laub zusammenzurechen.

      Sie betraten die Pforte. Auf ihr Klingeln wurden sie von einer Hausangestellten hereingebeten, durch das Haus zur hinteren Terrasse geführt, wo Otto Siebert in der Sonne saß.

      Er erhob sich von seinem Stuhl und trat auf die beiden zu. Er trug einen weißen Anzug und ein schwarzes Hemd – weit aufgeknöpft. Sein eisgraues Haar war glatt zurückgekämmt, was sein markantes, braungebranntes Gesicht betonte. Mit stahlblauen Augen fixierte er die Kommissarin, reichte ihr eine kühle, trockene Hand und stellte sich vor: »Otto Siebert! Mit wem habe ich das Vergnügen?«

      »Ich bin Jürgen Schnur, der leitende Ermittler im Fall Bernd Schumacher. Esther Weis ist ermittelnde Kriminalkommissarin«, übernahm Schnur die Antwort.

      »Wie kann ich Ihnen helfen?«

      »Sie waren 1991 Staatssekretär des Innenministeriums.«

      »Ja und? Heute gibt es davon sogar zwei«, konterte Siebert, ohne seinen Blick von Esther abzuwenden. »Damals wäre mir nicht entgangen, wenn so schöne Frauen bei der Polizei gearbeitet hätten.«