Sie blickte ihn mit noch mehr Zweifeln an, soviel Überraschung war sie schon seit Jahren nicht mehr gewohnt und das es den Ausdruck „Schatzi“, ein Wort, das sie früher oft gehört hatte, überhaupt noch gab, irritierte sie zusätzlich. Sie blieb skeptisch und kam gleich zur nächsten Ungereimtheit. Warum er sich um alles in der Welt weigere, zur Polizei zu gehen, das verstehe sie absolut nicht. Das sei doch ein blödsinniges Verhalten. Eine Anzeige bei der Polizei sei doch das einzig Logische und Sinnvolle, schon wegen der Versicherungen, denen er ja etwas vorlegen müsse. Was die Versicherung betreffe, sagte er resigniert, könne man gar nichts erwarten, die würden erstens sowieso nie zahlen und zweitens bei einem solchen Überfall schon gar nicht, von denen bekäme er keinen Pfennig, das sei völlig klar, die bräuchte er erst gar nicht anzusprechen, außerdem, sei das Auto ja gar nicht sein Problem, das sei das Problem des Händlers, den er im Übrigen bereits informiert habe. Diese Sache sei schon weitgehend ausgestanden. Wozu gäbe es denn Versicherungen. Und was die Polizei beträfe, die sei doch schlicht unfähig, die würden sich doch keine Mühe geben, um solche Banalitäten aufzuklären, die würden schlichtweg in der Bürokratie versanden. Es käme erfahrungsgemäß bei solchen Sachen nichts heraus. Auf ihre berechtigte Frage, wie viel Erfahrung er denn mit „solchen Sachen“ schon habe, zog er es vor, keine Antwort zu geben, statt dessen wiederholte er, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen, sei genauso überflüssig, wie mit der Versicherung zu verhandeln. Er müsse die Sache in die eigenen Hände nehmen, nur dann hätte er eine Chance dieses Miststück zu finden, das ihn überfallen habe. Er sagte seiner Frau jedoch nicht, was er unter Miststück verstand und ließ sie in dem Glauben, es handele sich um den Unbekannten mit dem Knüppel.
Der materielle Verlust, den er durch das Ereignis im Wald, wie er es nannte, erlitten hatte, war beträchtlich, aber überschaubar. Alles, was er bei sich gehabt hatte, Bargeld, Kreditkarten, Wertsachen, war natürlich weg. Die beiden Kreditkarten waren bis zum Limit belastet worden, obwohl er sie noch in der Nacht hatte sperren lassen. Die Wiederbeschaffung der wichtigsten Papiere, wie Ersatzführerschein und Personalausweis, würde dauern und natürlich kosten, aber besonders teuer würde der Austausch der Schlösser im Haus und im Büro werden. Er erklärte seiner Frau, dass dies unbedingt notwendig sei, da dieser Typ sowohl die Schlüssel als auch seine Adresse habe und sich jederzeit bedienen könne. Zum Glück hatte das Auto immer noch auf dem Parkplatz gestanden, als er es am nächsten Morgen aufsuchte und seltsamerweise klebte nicht einmal ein Strafzettel an der Windschutzscheibe, als wollte ihm das Schicksal eine weitere Streicheleinheit verpassen, zusätzlich zu der Samariterin. Nachdem er die notwendigsten Schritte bereits am folgenden Tag eingeleitet hatte, nur zu einem Arzt wollte er nicht gehen, genauso wenig wie zur Polizei, obwohl ihn seine Frau zu beidem drängte, hätte sein normaler Alltag fortgesetzt werden können. Aber es war nichts mehr normal, nichts war mehr so wie vor dem Ereignis im Wald. Seine Psyche war beschädigt, er war gedemütigt und verletzt worden, die Schmach musste getilgt werden und sein ganzes Denken war nur noch auf Rache ausgerichtet. Er brütete, sinnierte, plante, verwarf, verschob, plante erneut und konnte sich dennoch zu nichts Konkretem durchringen. Das Fatale war, dass er sich in diesem Zustand auf seine eigentliche Arbeit nicht mehr konzentrieren konnte. Das Geschäft litt, so lange ihn der Wunsch nach Aufklärung, Ermittlung der Täter, Wiedergutmachung, Rache beherrschte und alles andere übertönte und blockierte. Da er aber nicht wusste, wie er anfangen sollte, gegen wen er vorgehen konnte, wer ihn in diese peinliche, entwürdigende Lage gebracht hatte, musste er zunächst die Spurensuche ernsthaft aufnehmen, bevor er seine Rache systematisch planen konnte.
Das erste, dringendste Problem war die Identität seines Entführers und des Lockvogels. Wer waren die beiden? Gab es Hinweise auf ähnliche Ereignisse? Wenn ja, wo bekommt man solche Informationen her. Von der Polizei? Nein, auf keinen Fall. Er hat aus gutem Grund auf eine Anzeige verzichtet, nicht nur weil er die Wahrheit vor seiner Frau verschleiern wollte, irgendwie wären die Einzelheiten bei einer offiziellen Ermittlung doch ans Licht gekommen, sondern weil er die ganze Chose selbst in der Hand behalten wollte. Er wollte Rache und Genugtuung, aber nicht Gerechtigkeit und bei diesen Plänen hätte ihn die Polizei nur gestört oder sie höchstwahrscheinlich vereiteln. Wo also anfangen? Im Internet, bei den Suchmaschinen im Internet, beschloss er. Er surfte, gab alle möglichen Stichwörter ein und fand auch einige vielversprechende Webseiten und Portale, wie www.straftaten-unaufgeklaert.de oder http://www.mysterioese-vorfaelle.de. Er las Berichte von vielen haarsträubenden Ereignissen, von seltsamen Vorfällen, von Ungerechtigkeiten, von Rätseln en masse, aber nichts brachte ihn weiter, nichts war zu finden, was er mit seinem konkreten Fall in Verbindung hätte bringen können. Er merkte rasch, dass er so nicht weiter kam, dass er professionelle Hilfe brauchte und so suchte er eine Detektei auf, die ihm geeignet erschien. Ein älterer, unscheinbar wirkender Mann, der so gar nicht dem Klischeebild eines Detektivs entsprach, hörte ihm geduldig zu, als er seinen Fall ausführlich und emotionsgeladen schilderte und in diesem Fall auch bei der Wahrheit blieb. Am Ende zeigte sich der Detektiv interessiert, erklärte sich bereit, Recherchen durchzuführen und nannte die Kosten, die auf den Auftraggeber zukommen würden, eine nicht ganz unbeträchtliche Summe ohne die Spesen, die noch dazu kämen. Sie verabredeten sich für ein weiteres Treffen und bis dahin solle er sehr gründlich nachdenken, als ob das nicht schon die ganze Zeit getan hätte, und alles, aber wirklich alles, was in seiner Erinnerung hängen geblieben war, und die sei ja noch sehr frisch, aufschreiben. Dann erklärte der Detektiv, dass er versuchen werde, herauszufinden, ob, wo und wann es in letzter Zeit Fälle von Prostitution in einem Wohnwagen in Verbindung mit Entführung, Raub oder Nötigung gegeben habe. Seltsam sei, dass ihn bisher niemand erpresst habe, aber das könne noch kommen und das sei gar nicht einmal so schlecht, denn dann hätten sie einen Anhaltspunkt, einen Hinweis auf den Täter, eine Spur, die möglicherweise zu ihm führte. Aber darauf sollten sie jetzt nicht warten. Erpressung sei in jedem Fall scheußlich. Dann tröstete ihn der Detektiv noch ein bisschen, denn so etwas, die Sache, die ihm widerfahren sei, käme zum Glück selten vor und er habe ja dann auch nichts mehr machen können, als er in der Falle saß, er habe sich im Gegenteil ganz richtig verhalten, denn was hätte er davon, so die etwas ironische Schlussfolgerung, wenn er jtzt tot im Wald läge und die Ameisen würden ihn auffressen. Er, der Detektiv, würde sich bemühen, ähnliche Fälle zu prüfen. Er habe da so seine Quellen und Beziehungen, wenn auch keine praktische Erfahrung mit Entführungen, aber garantieren könne er natürlich für nichts, dafür seien die vorliegenden Hinweise auf die Täter einfach zu mickrig. Auch der Detektiv hatte ihn zum Anfang des Gesprächs gefragt, warum er partout nicht die Polizei einschalten wolle und auch er hatte ihm nicht geglaubt, als er ihm versicherte, er wolle seinen untadeligen Ruf nicht beschmutzen, das sei schlecht für das Geschäft, die Kunden dürften ihn mit so zwielichtigen Sachen wie Prostitution, Entführung und Raub nicht in Verbindung bringen, dann lieber gar keine Aufklärung als mit solch einem Makel leben. Das Immobiliengeschäft sei sensibel, da dürfe man sich keine Ausrutscher leisten.
Als sie sich am übernächsten Tag wieder gegenüber saßen, eröffnete ihm der Detektiv, dass er trotz seiner Beziehungen keine Hinweise gefunden habe, die auch nur halbwegs zielführend seien, aber sie dürften sich nicht entmutigen lassen, es sei nun mal ein schwieriger Fall. Dann gingen sie gemeinsam die Aufzeichnungen durch und der Fachmann ließ sich jedes kleinste Detail bestätigen, jede noch so belanglos erscheinende Nebensächlichkeit erklären. Die Frau könne er ja gut beschreiben, die habe er sich wohl gut eingeprägt und die zu finden, sei nicht unmöglich, aber den Mann, der sei ja nur höchst diffus in seiner Erinnerung vorhanden, eigentlich nur als Phänomen, nicht als Mensch. Der Campingbus sei ein weiterer Ansatzpunkt, auf den müsse man sich konzentrieren und hier müsse er noch weiter in seiner Erinnerung kramen, noch etwas mehr Milch liefern, genau so drückte sich der Detektiv aus.
Da er nichts Konkretes geboten bekommen hatte, aber immer noch auf eine schnelle Lösung hoffte, suchte er in seiner wachsenden Ungeduld sogar eine Wahrsagerin auf, deren Inserat er im Internet gefunden hatte. Er saß dann keiner Wetterhexe mit Kristallkugel und Eule auf der Schulter gegenüber, sondern eine taffe Geschäftsfrau in einem schicken Büro, die ihm die perfekte Lösung all seiner Probleme versprach, aber als sie ihm ihre horrenden Honorarforderungen nannte, für eine Reihe von Seancen, die nun einmal erforderlich seien, denn mit einer Sitzung wäre es natürlich nicht getan, kehrte sein Verstand wieder zurück und er verzichtete auf ein detailliertes Angebot und weitere Kontakte.