ihn voran. Wie kann er sich an dem Scheißkerl und seinem Paradiesvogel rächen? Wie, nur wie? Er weiß doch gar nicht, wer die beiden sind und wo er sie finden kann. Erst muss er den Bär haben, bevor er das Fell aufteilen kann. Das Sprichwort fällt ihm ein. Dann, als er wieder einmal auf einen spitzen Ast getreten ist und vor Schmerz aufschreit, wie man mit einem Knebel im Mund aufschreien kann, überkommt ihn ein Schwall von Selbstmitleid. Warum musste ihm das passieren? Ausgerechnet ihm? Die Schmach, die Schande und alles weg, Geld, Uhr, Ausweise, Kreditkarten, Schmuck. Der Ehering fällt ihm ein, der auch. Warum auch der? Das erfordert noch mehr Erklärungsbedarf. Seine Gedanken sind wieder bei seiner Frau gelandet und bei seinem Auto, das am Bahnhof steht, vor einer längst abgelaufenen Parkuhr. Auch das wird noch Ärger machen. Dann kreisen die Gedanken um den Anfang dieser grandiosen Scheiße, als er auf dem Weg zum Bahnhof dieser verdammten Nutte begegnet ist. Auf was hat er sich da nur eingelassen. Er geht wieder ein paar Schritte, dann stolpert er, fällt hin, rappelt sich auf. Der Kabelbinder scheuert an den Handgelenken, die Hände fühlen sich pelzig, kribbelig an. Er fürchtet auf einmal, dass sich das Blut staut, dass sie in Fäulnis übergehen und amputiert werden müssen. Die Krawatte ist etwas verrutscht, er sieht nun einen leichten Schimmer. Und dann ist da noch ein anderer Hoffnungsschimmer. Das Taschentuch konnte er dank intensiver Zungenarbeit aus dem Mund schieben, das Band war nicht besonders fest geknotet. Er schreit aus voller Brust.
„Was für eine grandiose Scheiße, was für eine grandiose Verspätung.“
Auf Spurensuche
Der Gang durch den Wald war höchst unangenehm gewesen. Zum Glück hatte er es geschafft, auf dem Waldweg zu bleiben, dank des vorsichtigen Vortastens mit den nackten Füßen. Es war schrecklich gewesen, denn der Waldweg war voller spitzer Steine. Unglaublich, dachte er, was soll all dieser Schotter im Wald. Wenn er vom Weg abkam, hatten die Dornen der Büsche am Wegrand seine Haut aufgekratzt, ihm aber auch den richtigen Weg gewiesen. Von Zeit zu Zeit schlug ihm ein Ast in das Gesicht und dazu kam die Hitze, die ihm selbst in dem schattigen Wald zusetzte und das, obwohl er splitternackt war. Neben den Verletzungen und der Hitze plagte ihn zunehmend großer Durst. Nach schier endlos langer Zeit, nach vielen Metern auf dem Schotter, nach vielen Irrungen und Wirrungen, verbunden mit unzähligen Flüchen, war ihm wenigstens eine gute Idee gekommen. Als ihn wieder einmal ein kräftiger Ast an der Wange streifte, drängte er sich in die Nähe des zugehörigen Baums. Er suchte, tastete, forschte mit den Schultern und dem Gesicht und auch mit der Zunge und fand endlich einen geeigneten Aststumpf, der fest genug und in der richtigen Höhe, geeignet war, die verdammte Krawatte einzuhängen und abzustreifen. Das gelang ihm schließlich nach einigen vergeblichen Versuchen und er fragte sich, warum er nicht schon früher auf diese Idee gekommen war. Er sah wieder. Sah, wo er war, sah seine Füße voller Wunden und Abschürfungen, sah auch, dass die Sonne sich schon dem Horizont näherte und schloss, dass es vermutlich schon deutlich nach acht Uhr sein musste. Aber die Nacht müsste er nicht im Wald verbringen, denn nun war das Vorankommen einfacher. Er ging zügig auf dem Waldweg, die peinigenden Schmerzen an den Fußsohlen ignorierend, bis dieser in eine Landstraße mündete.
An deren Rand stellte er sich hin und dort hatte er sogar Glück, das erste Mal an diesem verdammten Tag, denn schon das erste Auto, das vorbei kam, hielt tatsächlich an. Die Fahrerin, eine unerschrockene, ältere Lehrerin, ließ den nackten Irren mit den auf dem Rücken gefesselten Händen in ihr Auto, sie besaß kein geeignetes Werkzeug, um den Kabelbinder durchzuschneiden, wickelte ihm aber eine Decke um die Hüfte. Sie wollte ihn natürlich sofort zur nächsten Polizeiwache bringen, hätte sicher auch bei der Polizei angerufen, hatte jedoch ihr Handy nicht dabei. Aber auf sein inständiges Bitten, ob es nicht doch noch eine andere Möglichkeit gäbe, ihm zu helfen, nahm sie ihn mit, zu sich nach Hause. Dort durchschnitt sie endlich die Fessel und schenkte ihm dann eine kühle Apfelschorle ein, das beste Getränk, das der Gepeinigte in seinem ganzen Leben je bekommen hatte. Danach zeigte ihm die Unerschrockene die Dusche und trug, während er das kühle Wasser auf seiner Haut ebenfalls im höchsten Maße genoss, ein paar alte Kleidungsstücke ihres Mannes zusammen, der gerade nicht zu Hause war, und suchte auch alles auf, was sie an Pflastern und Binden besaß. Als der seltsame Mensch gesäubert, versorgt und angezogen war, bestellte sie ein Taxi und versicherte ihm mehrfach, bevor er einstieg, dass sie die Kleider nicht mehr brauche, und wünschte ihm alles Gute.
Er hatte der Lehrerin während der Fahrt erzählt, dass er überfallen worden war, als er mitten im Wald auf einem einsamen Wanderparkplatz pinkeln musste. Er sei ein paar Meter von seinem Auto weg gewesen, als plötzlich ein Mann aus dem Gebüsch aufgetaucht sei und ihn mit einem starken Knüppel niedergeschlagen habe. Ihm sei schwarz vor den Augen geworden, und als er wieder zu sich kam, habe er sich allein und völlig nackt, mit gefesselten Händen, mit einer Binde vor den Augen und einem Knebel im Mund mitten im Wald gefunden. Er habe keine Ahnung, was das für ein Typ war, er habe ihn kaum gesehen und außerdem sei er vermummt gewesen. Er habe eine Riesenwut, weil nun sein Auto, seine Kleidung, seine Papiere, seine Wertsachen, sogar sein Ehering und diverse Schlüssel weg seien, alles, was er bei sich hatte, sei weg, einschließlich seines schönen Autos und dass das eine Riesensauerei sei und er jetzt viel Zeit und Geld investieren müsse, um den Schaden zu reparieren. Auf ihre Frage, warum er den Überfall denn nicht anzeigen und die Polizei zum Tatort führe, um eventuelle Spuren zu sichern, sie schien durch häufige Kriminalromane auf diesem Gebiet gut bewandert zu sein, erklärte er, dass er das so rasch wie möglich tun werde, aber erst müsse er seine Frau beruhigen, die sicher vor Angst umkäme. Sie habe es mit dem Herzen und deswegen wolle er sie nicht anrufen, sondern ihr das Desaster schonend beibringen und dann mit ihr das weitere Vorgehen besprechen und dann würde er selbstverständlich zur Polizei gehen, aber der verdammte Täter sei ja längst über alle Berge und deswegen, würde das nicht so eilen, Spuren könne man im Wald sowieso nicht finden. Im Moment sei er viel zu aufgeregt und zu erledigt, um vernünftige Entscheidungen zu treffen und außerdem würde er sich maßlos schämen und müsse erst sein inneres Gleichgewicht finden, auf jeden Fall sei er aber ihr, seiner Retterin, seiner Samariterin, außerordentlich dankbar, dass sie ihm geholfen habe und ihn mitgenommen habe, obwohl er ja alles andere als vertrauenswürdig ausgesehen habe, eher wie einer, der aus einer Nervenklinik geflüchtet sei, ein gefährlicher Verbrecher, vielleicht ein masochistischer Exhibitionist. Die Lehrerin meinte nur lakonisch, Hilfe in so einer Situation sei doch selbstverständlich, außerdem sei er ja gefesselt gewesen und daher weniger gefährlich, selbst wenn er ein gefährlicher Verbrecher oder gar Mörder wäre. In diesem Zustand wäre sie sicher mit ihm fertig geworden, wenn er frech geworden wäre, das hätte sie schon ihr Beruf gelehrt und als Biologielehrerin könne sie auch ein nackter Mann nicht irritieren und so masochistisch könne ja wohl keiner sein, dass er freiwillig, ohne triftigen Grund gefesselt und nackt im Wald umherirren würde und das bei dieser Hitze. Ihre berufliche Erfahrung war wohl auch der Grund, warum ihn die Lehrerin höchst skeptisch ansah, als er seine Geschichte los geworden war und die Erklärungen seiner misslichen Lage abgegeben hatte. Sie hatte genügend Erfahrung mit Lügen, drang aber nicht weiter in ihn. Dafür war er ihr sehr dankbar und beschloss, sich bei Gelegenheit großzügig bei seiner Retterin zu bedanken.
Die Geschichte, die er der Lehrerin aufgetischt hatte, erzählte er auch in leichten Abwandlungen seiner Frau und auch diese glaubte ihm kein Wort. Warum war er überhaupt in einem Wald unterwegs gewesen, statt zum Bahnhof zu kommen und sie abzuholen? Überhaupt das Auto, es war doch absolut unlogisch, dass es immer noch auf dem Parkplatz in der Nähe des Hauptbahnhofs stehen soll, wie er denn in diesen Wald gekommen sei. Er sei nicht mit seinem eigenen Auto gefahren, erklärte er, sondern mit einem Mietwagen. Er habe schon seit Längerem mit dem Gedanken gespielt, ein neues Auto zu kaufen, ein anderes Modell und das habe er ausprobieren wollen, um sich ein Bild zu machen, bevor er viel Geld ausgibt. Er habe an diesem Nachmittag überraschend etwas Zeit gehabt und kurzerhand ein Auto für ein paar Stunden gemietet, um eine kleine Spritztour zu machen, zum Ausprobieren, wie gesagt und dann diese Kacke. Das einzig Gute sei, dass nun die Autovermietung sich mit dem Verlust herumärgern müsse, er habe ja Kasko gehabt und die schließe Diebstahl zum Glück mit ein. Seine Frau schaute ihn weiter voller Zweifel an. Von einem neuen Auto sei doch noch nie die Rede gewesen, das alte sei doch noch gar nicht so alt. Eben, meinte er, es sollte ja eine Überraschung sein, deswegen habe