Geri Schnell

Der Politiker


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      Willi fällt auf, dass dieser Hitler allgegenwärtig ist. Man kommt nicht an ihm vorbei, da auch an den anderen Tisch oft dieser Name zu hören ist. Wenn Willi hier nicht untergehen will, muss er sich anpassen, es bringt nichts, wenn er sich dagegen stellt.

      Er braucht dringend eine Strategie und Ausrede, warum er noch nicht in der Hitlerjugend mitwirkt. Ein Vorteil ist, dass er der einzige aus Worms ist. Er muss also nicht befürchten, dass die Geschichte seiner Uroma jemand kennt, so gesehen, kann er einen Neustart wagen.

      «Die Lehrer in Worms haben uns verboten, in die Hitlerjugend einzutreten. Das waren noch so richtig kaisertreue. Sie waren immer der Meinung, dass man den Kaiser wieder einsetzen soll, nur der würde Deutschland einigen. Wir mussten natürlich auch unter der französischen Besatzung leiden.»

      «Dann verstehe ich erst recht nicht», wendet Sepp ein, «warum die gegen Hitler sind, ihm ist es anzurechnen, dass die Franzosen abgezogen sind.»

      «Das haben die jetzt auch begriffen», verteidigt sich Willi, «schliesslich wurde Hitler in Worms gebührend empfangen. Das Stadion war restlos überfüllt.»

      Die ersten Wochen als Student sind für Willi nicht einfach. Es zeigt sich, dass die Schule in Worms, ihn nur ungenügend auf das Luftfahrtstudium vorbereitet hatte. Die meisten Mitstudenten waren bereits in der Luft. Wenn nicht in einem Flugzeug, so zumindest mit einem Zeppelin. Auch mit seinem Wissen im Bereich Strömungslehre hinkte er im Vergleich zu dem anderen Studenten hintennach. In diesem Fach kann ihm Sepp wenigstens etwas Nachhilfe geben, so dass er langsam den Anschluss findet.

      In Aachen halten sich die Nationalsozialisten zurück. Noch haben sie in der Regierung nicht die Mehrheit, sie sind nur zweitstärkste Partei. Immerhin Sorgen ihre Scharmützel in ganz Deutschland für Unruhe. Diese Unruhen führen am 12. September zur Auflösung des Reichstags. Faktisch ist Deutschland nicht mehr regierbar.

      Sepp und Hermann halten mit bissigen Kommentaren nicht zurück. Willi beteiligt sich ebenfalls an den politischen Diskussionen und vertritt nun vehement die Haltung, dass nur Hitler Deutschland retten kann. Für ihn spielt auch die Tatsache, dass sich Hitler sehr für die Luftfahrt einsetzt, eine wichtige Rolle. Bei den Politikern der Zentrumspartei hat man immer noch den Eindruck, dass sie eher auf Kavallerie setzen, als auf diese neuartige Modeerscheinung.

      Dank der Unterstützung von Sepp und Hermann wird Willi in die deutsche Studentenverbindung der Nationalsozialisten aufgenommen. Jetzt hatte er endlich das Gefühl, dass er dazugehört.

      An den Abenden im Vereinslokal geht es hoch her. Nationalistische Lieder werden gegrölt. Die Studenten sind bereit, für den Führer alles zu geben, das sind sie Deutschland schuldig.

      Der Aufschrei im Keller ist gross, als die neue Reichsregierung die SS und die SA verbietet. Das will man sich nicht bieten lassen. Nur dem Umstand, dass man keine Waffen hat, ist es zu verdanken, dass die Studenten nicht auf die Strasse gehen.

      «Unsere Zeit komm noch», verkünden die Aufpeitscher, «wir müssen Geduld haben und uns auf die kommenden Aufgaben vorbereiten. Man darf erst losschlagen, wenn man sicher ist, dass man gewinnt. Diese Lehre haben wir aus dem gescheiterten Hitlerputsch gezogen. Es dauert nicht mehr lange, dann sind wir an der Reihe.»

      Grossdemonstrationen organisierte man keine mehr. Dafür sind immer kleine Gruppen unterwegs, die, allerdings nur wenn keine Gefahr besteht, Schaufenster von jüdischen Geschäften einschlagen oder linke Demonstrant verprügeln, wenn diese aus ihren Kneipen kommen. Solange Hitler nicht an der Macht ist, darf Deutschland nicht zur Ruhe kommen.

      Willi lebt sich gut in Aachen ein. Seiner Gabi schreibt er wöchentlich einen Liebesbrief. Beide freuten sich, dass sie sich in den Herbstferien endlich wieder sehen können.

      Die Enttäuschung von Gabi ist gross, als ihr Willi schrieb, dass er die ganzen Herbstferien in einem Lager für Studenten verbringt. Willi sieht das Lager als Chance, sich in der Hitlerjugend zu integrieren und das dadurch die jüdische Uroma nicht mehr relevant ist. Das Lager könnte auch seine Chance, später in die Luftwaffe einbezogen zu werden, erhöhen.

      Zusammen mit Sepp und Hermann fahren sie nach Brüggen am Niederrhein. Dort wird ein Zeltlager errichtet. Das erste Mal wird Willi einem militärischen Drill ausgesetzt. Es beginnt bereits am Morgen beim Frühstück, ganze zehn Minuten sind dafür eingeplant. Punkt sechs Uhr ist Appel. Der Führer des Lagers verkündet das Tagesprogramm. Zuerst Sport, danach exerzieren, danach Schiessübungen mit einem Karabiner. Endlich darf Willi seinen ersten Schuss abgeben. Der landet nur noch knapp auf der Scheibe, was den Hortenführer zu einer Schimpftirade veranlasst. Mit dem zweiten und dritten Schuss kann er sich die ersten Punkte auf dem Blatt notieren lassen. Eins ist klar, beim Schiessen muss er sich noch gewaltig steigern. Danach gibt es Mittagessen auf dem Feld, das heisst aus der Feldküche und mit der Gamelle.

      Nach einer Stunde geht das Programm weiter. Seine Horte wird beim Bau einer Holzbrücke über einen Bach eingesetzt. Da heisst es Holzträger und Bretter schleppen. Vor dem Nachtessen muss noch ein Fussmarsch über fünf Kilometer bewältigt werden. Verpflegung ist spärlich, Willi muss das erste Mal hungrig ins Zelt kriechen, zum Glück ist er so müde, dass er sofort einschläft.

      Die nächsten Tage sehen ähnlich aus. Das einzige was Willi richtig Spass macht ist der Sport am Morgen. Besonders wenn Fussball gespielt wird, kann er sich durchsetzen, da hat er mehr Erfahrung. Alle anderen Aktivitäten bereiten ihm noch Probleme. Mit dem Schiessen wird es von Tag zu Tag besser, trotzdem, den Rückstand auf die andern, welche bereits in der Hitlerjugend geübt hatten, kann er nicht aufholen. Das Aufbauen der Brücke macht ihm Spass und auch die immer länger werdenden Fussmärsche bereiten ihm keine Probleme. Auch dass er abends immer hungrig ins Zelt muss, stört ihn nicht mehr, alles eine Frage der Angewöhnung. Das harte Leben wird durch die ausgeprägte Kameradschaft wettgemacht. Gemeinsam leiden ist nicht so schlimm, wie wenn man es allein ertragen müsste.

      Nach dem Lager wird Willi in die Hitlerjugend aufgenommen, niemand hat überprüft, ob eine jüdische Verwandte in seinem Stammbaum auftaucht. Wichtig ist, dass er ein guter Kamerad war, auf den man sich verlassen konnte.

      Als Mitglied der Studentenverbindung hätte er eigentlich das Recht, die SA-Uniform zu tragen, doch die SA bleibt vom Reichskanzler Schleicher verboten. Man darf sich momentan nur heimlich treffen.

      Gabi ist immer noch beleidigt, weil Willi in den Herbstferien nicht nach Worms kam. Ihre Briefe wurden seltener und er merkt, dass sie sich langsam entfremdet. Zum Glück ist schon bald Weihnachten, dann kann er für zwei Wochen nach Hause. Er muss sich für Gabi ein schönes Weihnachtsgeschenk ausdenken, sonst darf er sich nicht blicken lassen. Für ihn war die Aufnahme in die NSDAP wichtiger, als die Freundschaft mit Gabi. Er mag sie, das sicher, aber im Notfall gibt es noch andere Mädels, denen man den Hof machen kann. Das mit der NSDAP hatte nun Vorrang. Er muss die Uroma endlich vergessen machen, ist man mal dabei, kümmert sich niemand mehr, um seine Verwandtschaft.

      Die letzten Wochen besucht er immer den Markt. Noch kann er sich nicht entscheiden. Ein schöner Hut, ein Schal oder eine schöne Halskette stehen zuoberst auf der Liste, nur entscheiden kann er sich noch nicht. Eigentlich tendiert er auf die Halskette, doch die ist sehr teuer und übersteigt seine Möglichkeiten deutlich.

      «Du suchst doch noch ein Geschenk für Gabi», Sepp wirkt sehr geheimnisvoll, «ich hätte da eine Halskette, die könnte ich dir für fünfzig Mark verkaufen!»

      «Fünfzig? - Das könnte ich mir noch leisten», geht Willi auf den Handel ein, «ist sie aus Gold?»

      «Natürlich!», er zieht eine kleine Schachtel aus seinem Hosensack und zeigt sie Willi.

      Der nimmt die Halskette aus der Schachtel und betrachtet sie im Licht. Zudem schätzt er das Gewicht, ja, sie scheint wirklich aus Gold zu sein.

      «Aber fünfzig finde ich etwas gar hoch, sie hat nicht mal ein Amulett», versucht er den Preis noch zu drücken.

      «Das könnte ich noch organisieren, welches Sternzeichen hat deine Freundin?»

      «Sie ist eine Löwin.»

      «Gut, ich beschaffe dir noch ein Amulett